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Flüchtlingsdebatte in der Union
"Populismus ist nicht auf der Höhe der Realität"

Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter hat im Streit über die Flüchtlingspolitik vor Populismus gewarnt. Der Vorstoß von CSU-Generalsekretär Scheuer, straffällige Flüchtlinge ohne Gerichtsverfahren abzuschieben, sei eine populistische Forderung, sagte Kiesewetter im DLF. Deutschland sei ein Rechtsstaat und müsse dies auch bleiben. Nötig sei eine seriöse Politik.

Roderich Kiesewetter im Gespräch mit Jasper Barenberg | 15.01.2016
    Der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter.
    Kiesewetter beklagt ein Übermaß an Populismus. (pa/dpa/Pilick)
    Kritiker der Flüchtlingspolitik in Berlin seien nicht auf der Höhe der Realität, sagte der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter im Deutschlandfunk. "Ich erwarte von uns allen, nicht nur in der Union, dass wir uns nicht spalten lassen durch populistische Pseudolösungen, sondern es ist harte Arbeit von uns gefordert."
    Zur Begründung verwies er auf die bereits beschlossenen sowie die geplanten Maßnahmen im Asylrecht und mahnte zur Geduld. Die Umsetzung der strengen Regeln brauche Zeit - auch wenn bereits erste Erfolge spürbar seien, etwa im Rückgang der hohen Zahl der Balkan-Flüchtlinge, sagte Kiesewetter.
    Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin aus den Ländern hält der CDU-Politiker für fehl am Platz. Gerade dort sei die Politik gefragt, das beschlossene Recht auch durchzusetzen anstatt es zu dementieren, meinte Kiesewetter mit Blick auf den niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil. Der SPD-Politiker hatte der Zeitung "Die Welt" gesagt, die Kanzlerin werde sich im Laufe des Jahres korrigieren müssen.
    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Es wirkt wie ein Frontalangriff auf den Kurs der Kanzlerin. Eine verlässliche Sicherung der deutschen Staatsgrenzen fordern da einige Dutzend Abgeordnete der Union offenbar. Ohne Ausnahme soll künftig jeder Flüchtling bei der Einreise kontrolliert werden und ein Teil der Schutzsuchenden soll schon dort abgewiesen werden. Wie stark erhöhen die Kritiker damit den Druck auf Angela Merkel und wie sehr stellen sie die Politik der Kanzlerin infrage? Diese Frage stellt sich auch, weil jetzt wieder davon die Rede ist, dass dieser Vorstoß der Kritiker abgesagt ist oder zumindest abgeschwächt.
    Mitgehört hat der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter aus Baden-Württemberg. Schönen guten Morgen.
    Roderich Kiesewetter: Guten Morgen, Herr Barenberg.
    Barenberg: Helfen Sie uns auf die Sprünge. Gab es diese Liste nun oder gab es sie nicht, gibt es sie nicht?
    Kiesewetter: Ich glaube, darum geht es auch überhaupt nicht. Diejenigen, die den gegenwärtigen Kurs und vor allen Dingen auch die notwendigen Kursanpassungen kritisieren, haben jetzt sicherlich erkannt, dass wir eine seriöse Politik brauchen. Die Union steht für Zusammenhalt, und ich denke, das haben diese Kritiker erkannt.
    Barenberg: Das heißt, der Eindruck täuscht, dass die eine Seite der Fraktion nicht so recht weiß, was die andere eigentlich gerade tut?
    Kiesewetter: Der Punkt ist doch, dass wir alle, alle Kollegen im Bundestag, nicht nur in der Union uns im Klaren sein müssen, dass wir ganz harte Gesetzesverschärfungen getroffen haben im Asylpaket eins, und jetzt daran gehen, auch das Asylpaket zwei hinzubekommen. Das bedeutet auch frühzeitigere Abweisungen und so weiter. Diese brauchen Zeit. In der Politik kann man nicht über Nacht Entscheidungen treffen und glauben, dass das auf Knopfdruck funktioniert.
    Wir operieren gerade am offenen Herzen und brauchen dazu eine ganz ruhige Hand, und das funktioniert. Die Flüchtlinge vom Balkan sind bereits auf ein Minimum reduziert worden. Die Bundesländer sind jetzt in der Lage, statt Geldleistungen auch Sachleistungen zu geben. Und das, was Sie vorhin anklingen ließen mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten, ist ganz bitter, denn jetzt sind die Bundesländer gefordert. Die Bundesländer müssen die Asylpakete umsetzen, und das ist das ganz Entscheidende. Deshalb erwarte ich auch von Ministerpräsidenten und allen, die in Verantwortung sind, bis hin zum Landrat - Sie brachten vorhin auch ein Beispiel -, dass seriös gearbeitet wird. Das ist kein einfaches Erlösungsversprechen, sondern hier geht es um harte Arbeit und Überzeugungsarbeit auch in der Bevölkerung.
    "Der Populismus ist längst nicht auf der Höhe der Realität"
    Barenberg: Das heißt, auch das, was wir an Vorschlägen jetzt gehört haben aus der Mitte, sage ich mal, der Unions-Fraktion, das halten Sie für unseriöse Schnellschüsse?
    Kiesewetter: Umgekehrt! Wir haben so viele Entscheidungen getroffen, die jetzt umgesetzt werden müssen. Das ist alles quasi auf einem guten Weg. Nur es braucht Zeit. Beispiel: Residenzpflicht für die ersten sechs Monate in der Erstaufnahme, sichere Herkunftsstaaten aus dem Balkan, Beseitigung von Fehlanreizen, konsequente Zurückführung. Das alles ist ja bereits umgesetzt. Es wird bereits an der Grenze zu Österreich streng kontrolliert. Kein Flüchtling kommt, es sei denn, er geht über irgendeine grüne Grenze, die jetzt verschneit ist, kommt ohne Registrierung nach Deutschland. Und es wird auch zurückgewiesen bereits, insbesondere jene ohne Dokumente. Das läuft ja bereits. Das heißt, der Populismus ist längst nicht auf der Höhe der Realität.
    "Wir dürfen deshalb nicht mit einseitigen deutschen Maßnahmen handeln"
    Barenberg: Aber das heißt nichts anderes, als dass das, was wir jetzt gehört haben an Vorschlägen, noch mehr Zurückweisung von einem Teil der Flüchtlinge, zum Beispiel Grenzschließung, systematische Grenzkontrollen, dass Sie das für schlichtweg unseriös halten?
    Kiesewetter: Ich halte diese Vorschläge für unseriös, solange nicht klar ist, dass die beschlossenen Pakete greifen. Das Asylpaket eins zeigt bereits Wirkung. Das zweite Paket bekommen wir diesen Monat noch auf den Weg. Und jetzt geht es doch darum, den Menschen, die hier sind, einen raschen Weg in Integration zu ermöglichen, und denjenigen, deren Bleiberecht abgelehnt wurde, sofort den Weg wieder zurück zu ermöglichen. Das bedeutet, dass die Bundesländer nicht lamentieren sollen, sondern Recht durchsetzen. Die Alternative wäre, dass der Bund sagt, das Asylrecht als Gemeinschaftsaufgabe wahrzunehmen, den Artikel 104 Grundgesetz zu ändern, und dann würde der Bund dafür zuständig sein. Ich denke, dass das eine Alternative wäre, wenn die Länder sich der Sache nicht anpassen. Aber in der Politik braucht man Kompromisse und ich glaube, dass die beiden Asylpakete eine Verschärfung beinhalten, die das schärfste Asylrecht Europas in Deutschland haben.
    Wir haben ja auch noch eine andere Verantwortung. Die Bundesrepublik Deutschland ist die Herzkammer Europas. Wenn diese aufhört zu schlagen, zerfällt der europäische Zusammenhalt. Wir dürfen deshalb nicht mit einseitigen deutschen Maßnahmen handeln, ohne das abzustimmen mit unseren Nachbarn. Das ist gerade die Kunst und die Regierung hat sich - und das unterstütze ich aus voller Überzeugung - mit den beiden Asylpaketen Zeit geschaffen für eine europäische Lösung.
    Wir müssen in Flüchtlingslager im Umkreis Europas investieren
    Barenberg: Zeit für eine europäische Lösung ist ein wichtiges Stichwort, denn bisher war die Verabredung in der Union, wenn ich es recht wahrnehme, ja so, die Kanzlerin bekommt mehr Zeit oder bekommt Zeit für eine Lösung auf der europäischen Bühne, und im Moment zeigt sich, dass nichts passiert, dass es nicht vorangeht, wenn es beispielsweise um den Schutz der Außengrenzen geht. Genau das provoziert ja die weiteren Forderungen aus den Reihen der Kritiker.
    Kiesewetter: Nun, es geht ja schon insofern voran, als wir Frontex stärken, als wir im Mittelmeer die Schleuser bekämpfen, als wir jetzt in intensiven Verhandlungen, de Maizière und Altmaier in der Türkei diese Woche, versuchen, mit der Türkei zu einer Lösung zu kommen. Aber es geht auch noch um etwas anderes. Wir müssen den Staaten im östlichen Europa eindeutig klar machen, ihr müsst uns jetzt helfen. Wenn sich die politische Lage an den Grenzen Europas verschärft - Stichwort Ukraine; dort haben wir zwei Millionen Binnenflüchtlinge, dann helfen wir den osteuropäischen Staaten. Gleiches gilt für Südeuropa. Die Lage in Libyen erfordert europäisches Eingreifen. Wir müssen das diskutieren, wie wir an den Außengrenzen der EU möglicherweise mit Grenzsicherungsmaßnahmen, vielleicht aber auch mit robusteren Einsätzen die Fluchtursachen mit bekämpfen und große Auffangzentren schaffen, wo Flüchtlinge Tagesstrukturen bekommen.
    Ich bin sehr oft in Flüchtlingslagern in Jordanien, in der Südost-Türkei, im Libanon, auch in Tunesien. Hier müssen wir handeln, weil wenn diese Flüchtlingslager nicht stabil sind, dann kommen die Menschen aus diesen Flüchtlingslagern. Und viele Flüchtlinge, die aus Syrien stammen, kommen direkt aus solchen Flüchtlingslagern in der Südost-Türkei oder in Jordanien. Dort müssen wir investieren. Und europäische Lösung heißt nicht Abschottung Europas, sondern heißt, im Umkreis Europas sehr viel Geld zu investieren für Tagesstrukturen und Bildung. Das braucht Zeit und viel Überzeugungskraft. Wir in Deutschland haben unsere Hausaufgaben mit den beiden Asylpaketen gemacht.
    "Es wird keine schnellen Lösungen geben"
    Barenberg: Gehört zur Ehrlichkeit der Diskussion auch in Ihrer Partei und in der Schwesterpartei mit diesem Hintergrund auch, dass das eine Frage von Jahren sein wird und dass wir beispielsweise auch klar machen müssen, dass in diesem Jahr wieder ungefähr eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden?
    Kiesewetter: Herr Barenberg, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage. Wenn wir unserer Bevölkerung schnelle Lösungen suggerieren, werden wir sehr schnell Enttäuschungen herbeiführen. Wir sind am Beginn einer großen Migrationswelle in Richtung Europa: aus Afrika wegen des demografischen Wandels und der Perspektivlosigkeit, auch verursacht durch Kolonialismus, im Nahen und Mittleren Osten durch die Zuspitzung zwischen Saudi-Arabien und Iran. Es wird dort keine schnellen Lösungen geben. Wir müssen unsere Bevölkerung darauf vorbereiten, dass Europa in den nächsten Jahren noch zwei oder drei, vielleicht auch mehr Millionen Flüchtlinge anstreben. Jetzt kommt es darauf an, auch unsere Bevölkerung darauf vorzubereiten, dass sie an ein besseres Europa denken, das in der Lage ist, mit diesen Flüchtlingsströmen und auch Zuwanderungsströmen umzugehen.
    Und zweitens müssen wir auch in Deutschland versuchen, die Asylfrage von der Einwanderungsregelungsfrage abzukoppeln. Deshalb befürworte ich auch etwas ganz anderes, als Papier dieser Tage bringt. Vor einem Jahr hat Papier gefordert, dass wir ein Einwanderungsregelungsgesetz brauchen.
    Barenberg: Der ehemalige Verfassungsrichter.
    Kiesewetter: Das würde die Asylfrage deutlich abkoppeln und dann müssten wir sehr klar unterscheiden, wie wir mit den einzelnen Zuwanderungsgruppen umgehen. Wir sind ein Rechtsstaat und wer das Recht auf Asyl in Anspruch nehmen will, muss durch die Instanzen, und das sollten wir auch bleiben, ein Rechtsstaat. Aber dazu brauchen wir diese Asylpakete, die die Spreu vom Weizen sehr sorgfältig unterscheiden helfen.
    "Wir müssen ein Rechtsstaat bleiben"
    Barenberg: Wo Sie Rechtsstaat sagen, Herr Kiesewetter. Wenn CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer jetzt vorprescht mit der Forderung, straffällige Flüchtlinge ohne ein Gerichtsverfahren abzuschieben, wie fügt sich das in das Bild?
    Kiesewetter: Ich schätze Andi Scheuer sehr. Aber ich denke, dass dies viel zu populistische Forderungen sind, weil wir ein Rechtsstaat sind und bleiben müssen. Und das kann man mit solchen Forderungen nicht aushebeln. Wir wollen doch auch als Deutsche keine Schnellverfahren. Wir wollen doch auch mit unseren Staatsbürgern, dass da fair umgegangen wird. Was ich mir vorstellen kann ist, dass solche Verfahren in Aufnahmezentren gemacht werden, und erst wenn entschieden ist, ob ein Antrag oder auch ein Strafverfahren abgeschlossen ist, dass dann die Zuweisung zu den Kommunen erfolgt und nicht die Verteilung der Flüchtlinge und Asylbewerber vor solchen Entscheidungen. Alles andere ist Populismus.
    Barenberg: Die Debatte in der Union zeigt aber auch eins, nämlich dass die Geduld so langsam schwindet bei vielen Abgeordneten. Wie viel Zeit hat Angela Merkel nach Ihrer Einschätzung noch, um konkrete Ergebnisse zu erzielen?
    Kiesewetter: Wir haben doch schon konkrete Ergebnisse. Die Flüchtlingszahlen vom Balkan sind reduziert. Und ich hoffe, dass die gegenwärtige Diskussion die Verhärtungen, die wir haben, auflöst, auch mit Blick auf ein Zuwanderungsregelungsgesetz. Ich halte es für sehr gut, dass wir jetzt endlich Verschärfungen haben, die wir uns vor einem halben Jahr noch gar nicht hätten vorstellen können, und das braucht eben Zeit. Ich denke, strategische Geduld und Gelassenheit sind jetzt die Tugenden, die wir brauchen. Angela Merkel steht da in einer Linie mit Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Helmut Kohl, die alle nie einfache Lösungen hatten: Adenauer die Integration von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen, Ludwig Erhard die Wirtschaftsfrage, Kohl die deutsche Einheit. Und Angela Merkel hat jetzt eine vergleichbare Herausforderung.
    Die Union steht für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und ich erwarte von uns allen, nicht nur in der Union, dass wir uns nicht spalten lassen durch populistische Pseudolösungen, sondern es ist harte Arbeit von uns gefordert. Das, glaube ich, habe ich auch dargestellt, dass mit den Asylpaketen die richtigen Grundlagen dafür geschaffen sind.
    Barenberg: ... sagt der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter aus Baden-Württemberg. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen, Herr Kiesewetter.
    Kiesewetter: Vielen Dank, Herr Barenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.