Samstag, 20. April 2024

Archiv

Flüchtlingsdrama
"Systematisch unterlassene Hilfeleistung"

Die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer würden von Jahr zu Jahr schrecklicher, sagte der Vorsitzende der Hilfsorganisation Borderline Europe, Elias Bierdel, im Deutschlandfunk. Er kritisierte, dass die EU "systematisch unterlassene Hilfeleistung" betreibe.

Elias Bierdel im Gespräch mit Jasper Barenberg | 20.04.2015
    Elias Bierdel von der Organisation Borderline Europe.
    Elias Bierdel von der Organisation Borderline Europe. (Imago / Horst Galuschka)
    Bierdel kritisiert mit seiner Organisation die Abschottungspolitik der EU. Er sprach vom "größten Menschenrechtsskandal weltweit". "Es ist abstoßend zu sehen, dass die alte Heuchelei fortgesetzt wird." Es würde nicht reichen, auf kriminelle Banden hinzuweisen, denn diese seien nur durch die EU überhaupt ins Geschäft gekommen. Es sei klar, dass eine humanitäre Katastrophe wie die in Syrien Einfluss darauf habe, wie viele Menschen sich auf den Weg nach Europa machen. Doch Europa verhindere, dass Menschen in Not "soweit kommen, dass sie uns überhaupt um Hilfe fragen können - und zwar durch systematisch unterlassene Hilfeleistung."
    Bierdel spricht von mittlerweile 25.000 Toten, die der Fluchtweg über das Mittelmeer in den letzten Jahren gefordert habe. "Innerhalb dieses riesigen Skandals ist es bemerkenswert, dass in der EU unter Zehntausenden Bediensteten und Beamten, die in dieser Abwehrschlacht gegen Flüchtlinge beteiligt sein, kein einziger ist, der sich mit der Zahl der Opfer beschäftigt." Die Staaten wollten laut Bierdel verhindern, dass es eine Bezugsgröße gibt. "Stattdessen gibt es nur Schätzungen. Es sind 25.000 Tote, von denen wir wissen, die Dunkelziffer ist sicherlich wesentlich höher."
    ______________________________________________________________________________
    Das Interview in voller Länge:
    Am Telefon ist Elias Bierdel von "borderline europe - Menschenrechte weltweit". Die Organisation sammelt seit Jahren Informationen über das, was an den Außengrenzen der EU vor sich geht, und kritisiert die Abschottungspolitik Europas. Schönen guten Morgen, Herr Bierdel.
    Elias Bierdel: Guten Morgen.
    Barenberg: Viele sprechen jetzt von einer menschengemachten Katastrophe, von der Verantwortung Europas, von der Tatenlosigkeit der europäischen Regierungen. Zurecht?
    Bierdel: Ja. Das ist für uns, die wir jetzt seit zehn Jahren ungefähr die Verhältnisse dort im Mittelmeer vor allen Dingen ganz, ganz eng beobachten, die wir daraus natürlich unsere Schlüsse ziehen, die wir Empfehlungen gegeben haben, die wir versucht haben, die Umstände öffentlich zu machen, die ja haarsträubend sind, die ja den größten Menschenrechtsskandal weltweit darstellen mit bisher ungefähr 25.000 Toten über die letzten Jahre, für uns ist das einfach nur noch traurig. Es ist abstoßend und schrecklich zu sehen, dass diese alte Heuchelei fortgesetzt wird. Es ist schlechterdings so, dass der politische Wille fehlt in Europa, Menschen zu retten, die man retten könnte, und das ist der Kern des Problems für uns und eine Frage, wo wir innehalten sollten und uns vielleicht mal ganz kurz im Spiegel anschauen, wer wir eigentlich sind in dieser Welt und was wir vorhaben. Denn es wird nicht reichen, auch jetzt wieder darauf hinzuweisen, dass man kriminelle Banden bekämpfen muss, wenn man zuvor durch eine systematische Politik der Abschreckung und Abschottung dafür gesorgt hat, dass eben diese Banden überhaupt ins Geschäft kommen.
    Barenberg: Sie beobachten das Geschehen an den europäischen Grenzen seit Jahren, Sie haben es erwähnt. Wie würden Sie die Entwicklung beschreiben, auf den Punkt bringen in dieser Zeit?
    Keine amtlichen Zahlen, nur Schätzungen
    Bierdel: Es wird schrecklicher von Jahr zu Jahr. Das hängt natürlich auch ab mit den Ereignissen in unserer unmittelbaren Umgebung, in den Nachbarregionen, im nördlichen Mittelmeer-Raum. Ich muss jetzt keine Namen nennen, aber es ist ja klar, dass eine Katastrophe wie die in Syrien, die die größte humanitäre Herausforderung unserer Zeit darstellt, die Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat, dass das natürlich einen Einfluss hat darauf, wie viele Menschen sich überhaupt auf den Weg machen, oder überhaupt noch versuchen, Schutz und Hilfe in Europa zu finden. Aber die entscheidende Frage ist, ob Europa diesen Schutz, den wir ja eigentlich anbieten wollen, der ja auch bei uns in unseren Ländern hier verfassungsmäßig verankert ist - jawohl: politisch Verfolgte und einige andere noch genießen Schutz und Hilfe -, ob wir das überhaupt noch einlösen wollen. Im Moment - und das ist die furchtbare Wahrheit dort - setzen wir darauf, dass wir dafür sorgen, dass sie überhaupt nicht erst ein Territorium erreichen, in dem sie diesen Schutz auch nur beantragen könnten. Wir verhindern, dass Menschen in Not so weit kommen, dass sie uns überhaupt fragen können. Das tun wir systematisch und im Mittelmeer vor allen Dingen durch systematische unterlassene Hilfeleistung.
    Barenberg: Auf Ihrer Internetseite ist die Anklage zu lesen, dass das wahre Ausmaß dieser Tragödie von offizieller Seite verschwiegen wird, dass die Bürgerinnen und die Bürger Europas nicht erfahren sollen, was sich an den Außengrenzen der EU tatsächlich abspielt. Sie haben eben die Zahl von 25.000 Toten genannt. Welche Hinweise, welche Indizien haben Sie für diesen Vorwurf?
    Bierdel: Ich sprach von 25.000 Toten. Das ist eine Zahl, die ergibt sich daraus, dass verschiedene Menschenrechtsorganisationen, die Zivilgesellschaft sehr sorgfältig alle den Tod von Menschen dokumentieren. Aber innerhalb dieses riesigen Skandals, den ich schon angesprochen habe, ist es noch einmal bemerkenswert, dass es tatsächlich in der Europäischen Union unter zehntausenden Beamten und anderen Bediensteten, die in dieser Abwehrschlacht, ich nenne das jetzt mal so, gegen Flüchtlinge beteiligt sind auf die eine oder andere Weise, dass unter all denen kein einziger ist, der sich ganz offiziell mit der Zahl der Opfer beschäftigt. Und das hat ebenfalls einen ganz logischen Grund, einen schrecklichen. Die Europäische Union, die Mitgliedsstaaten wollen verhindern, dass es eine Bezugsgröße gibt, auf die man hier zurückgreifen könnte, über die wir jetzt hier sprechen könnten, eine amtliche Zahl. Stattdessen gibt es nur Schätzungen. Wir nennen nur diese eine Größe, die wir selbst im Verbund mit anderen Organisationen ermittelt haben: 25.000 Tote, von denen wir wissen. Die Dunkelziffer ist sicherlich um ein Vielfaches höher.
    Barenberg: Elias Bierdel von "borderline europe - Menschenrechte weltweit". Danke für Ihre Einschätzungen heute Morgen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.