Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Flüchtlingsdschungel von Calais
"Die Situation ist völlig außer Kontrolle"

Fast 7.000 Flüchtlingen leben nach offiziellen Zahlen derzeit im sogenannten "Dschungel", dem wilden Flüchtlingslager außerhalb der Hafenstadt Calais, und täglichen kommen weitere dazu. Die französische Regierung will das Camp nun schrittweise weiter verkleinern - auch auf Druck der Anwohner. Für sie ist die Situation schon lange nicht mehr tragbar.

Von Kerstin Gallmeyer | 05.09.2016
    Bauarbeiter in orangefarbenen Westen reißen Hütten aus Holz und Plastikplanen ab. Davor steht ein bewaffneter Polizist in Schutzausrüstung.
    Im Frühjahr 2016 hatte die französische Regierung bereits den südlichen Teil des Flüchtlingslagers von Calais abreißen lassen. (AFP / PHILIPPE HUGUEN)
    "In dieser Situation wissen Sie nicht mehr, was sie tun sollen. Sie sind auf das Dach des LKWs gestiegen, haben es geöffnet und sind hineingeklettert."
    Olivier Beaubart ist einer von vielen LKW-Fahrern, die regelmäßig Ware vom französischen Calais nach Großbritannien bringen. Doch die Strecke zum Hafen von Calais ist für ihn und für viele seiner Kollegen zum Spießrutenlauf geworden.
    "Unsere Fahrer werden fast jede Nacht von Migranten aufgehalten", bestätigt Sébastien Rivéra vom Verband für LKW-Fahrer in Calais:
    "Sie blockieren den Verkehr auf der Autobahn oder der Straße zum Hafen mit Reifen oder Baumstämmen. Manchmal zünden sie die Barrikaden auch an. Wenn der LKW anhält, bedrohen sie den Fahrer. Sie versuchen, in den Anhänger zu gelangen. Bringen die Ware durcheinander. Ihr Ziel ist es, sich darin zu verstecken. Die Situation ist völlig außer Kontrolle."
    Geschäftstreibende und Anwohner demonstrieren für Abriss
    Auch aus Sicht von Geschäftstreibenden in Calais und Anwohnern ist die Situation schon lange nicht mehr tragbar. Deshalb demonstrieren sie für den Abriss des so genannten Dschungels von Calais. Mit einer Schneckentempo-Aktion und Blockaden auf der Autobahn und der Hafenstraße und einer Menschenkette bis zum Hafen. Auch Landwirt Xavier Fossey wird mit dabei sein. Sein Hof liegt unweit der Autobahn. Er klagt über tausende Euro Schaden – verursacht von den Bewohnern des Flüchtlingscamps:
    "Jede Nacht kommen die Migranten auf mein Gelände, um 2, 3 Uhr morgens. Sie verstecken sich im Getreide, damit sie nicht von der Polizei oder den Fernfahrern erwischt werden."
    Die Lage in Calais ist explosiv: Im Frühjahr hatte die französische Regierung den südlichen Teil des Flüchtlingslagers abreißen lassen. Doch seitdem sind es nicht weniger Migranten geworden, sondern mehr. 6.900 Menschen leben nach offiziellen Zahlen derzeit im Nordteil des Lagers, Hilfsorganisationen gehen sogar von mehr als 9.000 Bewohnern aus.
    Immer mehr Flüchtlinge wollen in Frankreich bleiben
    Täglich zählen sie bis zu 100 Neuankömmlinge. Für viele von ihnen ist aber längst nicht mehr Großbritannien das Ziel. Immer mehr Flüchtlinge wollen in Frankreich bleiben, hoffen in Calais aber auf eine bessere Betreuung als in Paris oder in anderen Städten. Calais‘ konservative Bürgermeisterin Natacha Bouchart will nicht mehr länger mit ansehen, wie das Lager immer voller wird. Sie fordert, den Dschungel so schnell wie möglich aufzulösen:
    "Unsere Wirtschaft leidet weiter. Die Sicherheitskräfte können nicht mehr. Deshalb muss es endlich verbindliche Entscheidungen geben, den ganzen nördlichen Teil des Lagers abzureißen."
    Frankreichs Innenminister will neue Unterkunftsplätze schaffen
    Dass das geschehen soll, hat Frankreichs Innenminister Cazeneuve bei einem Besuch am vergangenen Freitag in Calais bestätigt. Als ersten Schritt will er für die Flüchtlinge bis Ende des Jahres 8.000 neue Unterkunftsplätze in ganz Frankreich schaffen. Und für mehr Sicherheit rund 200 zusätzliche Polizisten in die nordfranzösische Stadt schicken. Dem Vorsitzenden eines Bündnisses von Geschäftstreibenden in Calais, Frédéric van Gansbeke, reicht das allerdings nicht. Er droht mit weiteren Aktionen:
    "Ich verlange von Herrn Cazeneuzve ein konkretes Datum für den Abriss des Dschungels. So lange wir das nicht haben, bleiben wir weiter mobilisiert."