Mittwoch, 24. April 2024

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Flüchtlingskinder in Deutschland
"Die Kernprobleme hängen oft mit der Unterkunft zusammen"

Unicef Deutschland fordert einheitliche Schutzstandards für Flüchtlingskinder. Besonders dort, wo Familien lange in Gemeinschaftsunterkünften wohnten, gebe es nicht genügend Sicherheit vor Gewalt und Übergriffen, sagte Ninja Charbonneau von Unicef im DLF.

Ninja Charbonneau im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 02.01.2017
    Ninja Charbonneau, Pressesprecherin von Unicef Deutschland sitzt an einem Tisch im Aufnahmestudio
    Ninja Charbonneau von Unicef Deutschland forderte eine bundesgesetzliche Regelung für Mindestschutzstandards. (Deutschlandradio / Nina Carbonetti)
    Besonders in Großstädten wie Köln und Berlin habe sich die Situation verfestigt, dass viele Familien in nicht kindgerechten Sammelunterkünften untergebracht seien, erklärte Charbonneau. In den Flächenstaaten Sachsen und Thüringen, wo es einen großen Leerstand gebe, bestehe dieses Problem hingegen nicht.
    Teilweise müssten sich Familien sechs Monate und länger in Turnhallen aufhalten. Dort sei der Schutz vor Gewalt mangelhaft. Charbonneau kritisierte, dass es in Nordrhein-Westfalen, wo die meisten Kinder wohnten, teilweise ein ganzes Jahr dauere, bis diese eingeschult würden, da die Schulpflicht erst einsetze, wenn die Familien in eine permanente Unterkunft umgezogen seien.
    Charbonneau forderte eine bundesgesetzliche Regelung für Mindestschutzstandards - die bereits erarbeiteten Regelungen seien freiwillig und die Auslegung sehr unterschiedlich. Dabei handle es sich um Bestimmungen zu den baulichen Bedingungen, wie abschließbare Duschen und Toiletten. Es gehe aber auch um Personal in den Unterkünften, damit vertrauliche Ansprechpartner zur Verfügung stünden.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Das Jahr 2016, es war vor dem Hintergrund der hohen Zahl an Flüchtlingen, die bewältigt werden mussten, eine riesige Herausforderung. Worauf kommt es im kommenden Jahr an, dazu Stellung zu nehmen, dazu hat der Städte- und Gemeindebund heute zur Pressekonferenz eingeladen, und da ging es auch um das Thema Terrorabwehr. Theo Geers hat zugehört.
    Die Städte und Gemeinden stehen also vor großen Herausforderungen bei der Integration der Flüchtlinge. Wie aber ist die Lage besonders bei Kindern und Jugendlichen? Rund 300.000 von ihnen sind in den vergangenen zwei Jahren nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen leben trotz erheblicher Anstrengungen oft in desolaten Zuständen. Zu diesem Schluss kommt die Kinderhilfsorganisation UNICEF, und darüber können wir jetzt sprechen mit Ninja Charbonneau von UNICEF Deutschland. Frau Charbonneau, was genau heißt desolat, wie müssen wir uns denn die Lebensbedingungen vorstellen?
    Ninja Charbonneau: Ja, zunächst einmal eine kleine Vorbemerkung dazu: Es ist sehr schwierig bis unmöglich, dazu eine generelle Aussage zu machen, weil die Situation der Kinder und Jugendlichen sehr unterschiedlich ist. Je nach Bundesland und auch innerhalb der Bundesländer, zum Teil auch von Kommune zu Kommune, sehr unterschiedlich. Wir stellen zum Beispiel fest, dass sich in Großstädten wie Köln und Berlin die Situation verfestigt hat, dass viele geflüchtete Familien in Gemeinschaftsunterkünften sind, die überhaupt nicht kindgerecht sind, also zum Beispiel umfunktionierte Turnhallen oder Messehallen nach wie vor, wohingegen andere Bundesländer wir immer wieder hören, dass sie diese Probleme nicht haben, also Flächenstaaten wie Sachsen und Thüringen, wo es ohnehin einen großen Leerstand an Wohnungen gibt. Dort funktioniert es offenbar sehr gut, dass die Familien sehr schnell innerhalb von zwei, drei Wochen in eine Wohnung umziehen können und dann sehr schnell in einer kindgerechten Umgebung sind. Also generell ist es sehr unterschiedlich.
    "Mangelhafter Schutz vor Gewalt und Übergriffen"
    Heckmann: Jetzt sind die Situationen sehr unterschiedlich, haben Sie gerade gesagt. Wo sind die Kernprobleme? Sie haben gerade schon das Problem Unterkunft genannt. Gibt es weitere?
    Charbonneau: Ja, die hängt auch oft mit der Unterbringung zusammen, denn es ist oft so in den Gemeinschaftsunterkünften, dass die Kinder sich dort jetzt länger aufhalten können, aber auch aufhalten müssen, was auch an der Gesetzesänderung letztes Jahr liegt. Vorher hieß es maximal drei Monate, jetzt können es sechs Monate oder auch mehr sein, und das ist keine Seltenheit, dass wir Familien antreffen, die sechs, sieben, acht, neun Monate in einer Turnhalle zum Beispiel untergebracht sind. Dort gibt es mangelhaften Schutz, auch mangelhaften Schutz vor Gewalt und Übergriffen, häufig sehr schlechte hygienische Bedingungen, aber auch häufig fehlender Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, zum Beispiel zur Schule, aber auch strukturierten Angeboten in der Einrichtung. Ein ganzer Haufen von Problemen, die damit zusammenhängen.
    Heckmann: Das heißt, wir müssen uns vorstellen, dass viele Kinder und Jugendliche Gewalt und Übergriffen ausgesetzt sind, weil sie in einer solchen Lebenssituation, Wohnsituation sich befinden.
    Charbonneau: Nicht zwangsläufig ausgesetzt sind, aber sie laufen Gefahr, so einer Situation ausgesetzt zu sein. Wir stellen fest, dass viele Einrichtungen und auch viele Kommunen, viele Länder, Schutzstandards entwickeln, aber das ist nicht flächendeckend der Fall. Wir haben von UNICEF gemeinsam mit dem Familienministerium, mit dem Bundesfamilienministerium und vielen anderen Partnern, unter anderen den Wohlfahrtsverbänden, Mindestschutzstandards entwickelt für Gemeinschaftsunterkünfte, und uns ist aber sehr daran gelegen, dass es eine bundesgesetzliche Regelung gibt, die es bisher nicht gibt. Das heißt, diese Mindestschutzstandards sind nicht verpflichtend, sie sind freiwillig, und wie sie gehandhabt werden, wie sie ausgelegt werden, ist bisher sehr unterschiedlich.
    Heckmann: Und wie sollen die Ihrer Meinung nach aussehen, diese Mindeststandards?
    Charbonneau: Dazu gehören sowohl bauliche Bedingungen wie zum Beispiel, dass die Toiletten abschließbar sind, dass die Duschen abschließbar sind, dass es ausreichende Beleuchtung gibt, aber dazu gehört auch die personelle Ausstattung, dass es Personen gibt, die als Ansprechpartner dienen für die Geflüchteten, vertrauliche Ansprechpartner, dass die Geflüchteten aber auch diese Möglichkeiten kennen und auch die Möglichkeiten kennen, zum Beispiel in ein Frauenhaus zu gehen bei Übergriffen oder dass sie auch das Vertrauen haben, sich an die Polizei zu wenden. Das sind solche Standards, die man einführen kann und muss, aber, um es noch mal zu wiederholen, generell gilt, Kinder und Familien sollten sowieso nur so kurz wie möglich in großen Gemeinschaftsunterbringungen untergebracht sein.
    "Es gibt insgesamt zu wenig Plätze an den Schulen"
    Heckmann: Okay, also die Unterkünfte sind ja der eine Punkt, ein entscheidender und wichtiger Punkt, wie Sie gerade verdeutlicht haben. Sie haben gerade in Ihrer Aufzählung aber auch gesagt, dass der Zugang zu Bildung ein Problem ist. Da fragt man sich natürlich, wie kann das sein, wie kommt das?
    Charbonneau: Ja, auch hier wieder ein sehr unterschiedliches Bild, denn Bildung ist Ländersache, das heißt, die Bundesländer regeln das auf ihre Art und Weise. In Nordrhein-Westfalen, dem größten Flächenland, wo auch die meisten geflüchteten Kinder und Jugendliche leben, ist es zum Beispiel so, dass die Schulpflicht erst einsetzt mit der Zuteilung zu einer Kommune. Solange die Kinder aber in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung sind, gilt diese Schulpflicht noch nicht. Das kann aber sein, dass dieser Zustand mehrere Monate dauert, und in dieser Zeit gehen die Kinder nicht zur Schule, und danach müssen sie dann oft erst noch auf einen Schulplatz warten. Das kann sich also ein ganzes Schuljahr lang hinziehen im schlechtesten Fall. Das ist aber auch nicht überall so. In anderen Bundesländern sehen wir, dass die Kinder sehr schnell integriert werden, und auf die Art und Weise, wie sie dann beschult werden, auch da gibt es kein einheitliches Bild. Einige Länder, wie zum Beispiel Berlin, Hamburg, arbeiten mit dem Modell von Willkommensklassen, andere Bundesländer versuchen, die Kinder so schnell wie möglich in die Regelklassen zu integrieren. Hier ist eigentlich noch sehr, sehr viel Bedarf. Es gibt auch insgesamt zu wenig Plätze an den Schulen und vor allen Dingen auch an den Kindergärten. Das heißt, der Ausbau muss vorangehen. Es müssen aber auch natürlich mehr geschulte Lehrer und Erzieher, Erzieherinnen zur Verfügung stehen.
    Heckmann: Ninja Charbonneau war das von UNICEF Deutschland über die Lage von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Frau Charbonneau, danke Ihnen für dieses Gespräch!
    Charbonneau: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.