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Flüchtlingskrise
2017: Weiter Flucht und Tod im Mittelmeer

Fast 120.000 Menschen sind 2017 von Libyen aus über das Mittelmeer nach Italien geflohen. Dort haben viele Schreckliches erlebt: Von Sklavenmärkten, Folter und Vergewaltigung ist die Rede. Um die Migrationskrise zu lösen, müsse sich die Internationale Gemeinschaft zusammentun, so Experten. Sonst werde sich 2018 nichts ändern.

Von Jan-Christoph Kitzler | 28.12.2017
    Die Deutsche Marine hat in einer Rettungsaktion etwa 60 Kilometer nordwestlich von Tripolis vor der libyschen Küste fast 1200 Migranten im Mittelmeer aus Seenot gerettet und nach Italien gebracht.
    Diese Flüchtlinge hatten Glück. Sie wurden etwa 60 Kilometer nordwestlich von Tripolis vor der libyschen Küste von der Deutschen Marine gerettet. 3.100 Menschen verloren 2017 auf dem Mittelmeer ihr Leben. (Bundeswehr/dpa)
    Zugegeben: eine Rangliste ist sinnlos – aber vielleicht waren das die schlimmsten Szenen der Flüchtlingskrise 2017. Ein Sklavenmarkt in Libyen, auf dem junge Männer aus Südsahara-Staaten wie eine Ware verkauft wurden. Reporter des US-Fernsehsenders CNN hatten das Grauen im November aufgedeckt. Rund 118.000 Menschen sind 2017 über das Mittelmeer aus der Hölle in Libyen nach Italien gekommen – und damit 34 Prozent weniger als im Vorjahr. Soweit die nackten Zahlen. Über das Schicksal der Menschen sagen sie nur wenig aus.
    Flavio di Giacomo von der IOM, der Migrationsagentur der Vereinten Nationen sagt, dass die alten Schablonen schon längst nicht mehr passen:
    "Oft wird in Europa zwischen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen unterschieden. Aber wenn wir uns die Menschen, die über Libyen ankommen ansehen, dann wird diese Unterscheidung immer schwieriger. Ein Migrant, der in Libyen ist, dort vergewaltigt oder gefoltert wird, und von dort fliehen muss, um sein Leben zu retten, ist eine verletzbare Person. Er mag als Wirtschaftsmigrant aufgebrochen sein, aber hier wird er traumatisiert. Diese Geschichte von der Unterscheidung zwischen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen ist nicht mehr die gleiche, wie noch vor einiger Zeit."
    Auch 2017 hat sich wieder mal gezeigt, dass die Migrationsströme wandelbar sind, und sich schnell an aktuelle Lagen anpassen können.
    "Die Herkunft der Migranten hat sich verändert. Syrer und Eritreer kommen in Italien nicht mehr an, sondern vor allem Migranten, die in Westafrika aufbrechen. Ohne einen Plan, oft wollen sie einfach nur nach Libyen, aber durch die Krise in Libyen, treten dann einige, längst nicht alle, die Reise nach Europa an, um zu überleben. Und wenn sie dann in Italien ankommen, dann wollen sie meist auch nicht in andere europäische Länder – auch das hat sich verändert."
    Italienische Schiffe in libyschen Hoheitsgewässern
    Sehr flexibel sind vor allem die Schleuserbanden, die auch 2017 weiter ihr großes Geschäft gemacht haben. Auch wenn Italiens Regierung im Sommer einen neuen Kurs eingeschlagen hat: da wurde die, von Menschenrechtsorganisationen kritisierte, Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache noch einmal deutlich verstärkt. Seitdem operieren italienische Schiffe auch in libyschen Hoheitsgewässern, um die Flüchtlingsboote schon dort abzufangen und die Migranten zurückzuschicken. Seitdem wurde auch der Druck auf die Nichtregierungsorganisationen erhöht, die auf dem Mittelmeer Menschenleben retten. Angeblich soll auch Geld an Milizen in Libyen geflossen sein, um die Schleuser zu stoppen. Die Erfolge waren eher kurzzeitig. Italiens Innenminister Marco Minniti hält dennoch stolze Reden:
    "Wenn wir Menschenleben retten wollen, wenn wir für eine menschenwürdige Aufnahme sorgen wollen, dann müssen wir den illegalen Menschenhandel bekämpfen. Unser erster Feind sind die Schleuser! Wir müssen die Migrationsströme ordnen, die Illegalität bekämpfen, um zu zeigen, dass man die Herausforderung der Migration angeht, indem man humanitäre Korridore einrichtet, zusammen mit den übrigen Mittelmeerstaaten."
    Eine Flugstunde von Rom entfernt: Sklavenmärkte, Folter und Vergewaltigung
    Diese humanitären Korridore gibt es inzwischen, nach Italien und neuerdings auch nach Belgien. Aber sie spielen zahlentechnisch keine große Rolle, eher politisch. Sie sind ein Zeichen, das angesichts der Größe des Problems nicht ausreicht, sagt Flavio di Giacomo von der Internationalen Organisation für Migration:
    "Die Internationale Gemeinschaft muss sich zusammentun, damit es aufhört, dass wir im 21. Jahrhundert von Sklavenmärkten sprechen müssen. Damit aufhört, dass eine Flugstunde von Rom entfernt, von Europa, Menschen verkauft werden, Frauen vergewaltigt werden und Menschen gefoltert."
    Und: auch 2017 war ein Jahr, in dem Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer ihr Leben gelassen haben. Genauer gesagt mehr als 3.100, die meisten sind bei Bootsunglücken ertrunken. Auch das war 2017 die traurige Realität der Migrationskrise. Experten sagen: der Beginn ihrer Lösung wäre, anzuerkennen, dass das schon längst keine Krise mehr ist, sondern dass Migration nach Europa ein strukturelles Problem ist, das grundsätzliche Lösungen braucht. Ansonsten werde sich auch 2018 wenig an der Situation in Libyen und auf dem Mittelmeer ändern.