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Flüchtlingskrise
"Ohne Griechenland kann man die Krise nicht lösen"

Aus Sicht von Gerald Knaus, Leiter der Denkfabrik Europäische Stabilitäts-Initiative, hat sich Europa durch fehlende Solidarität, "nicht sehr klares Denken" und durch schlechte Umsetzung von "manchmal auch vernünftigen Plänen" vollkommen ins Abseits manövriert. Europa brauche Griechenland, um eine Lösung in der Flüchtlingskrise zu finden, sagte er im DLF.

Gerald Knaus im Gespräch mit Martin Zagatta | 07.03.2016
    Angela Merkel, Ahmet Davutoglu und Francois Hollande beim EU-Türkei-Gipfel im November 2015.
    Gerald Knaus, Leiter der Denkfabrik Stabilitäts-Initiative im DLF: "Die Türkei alleine kann es nicht." (dpa / picture-alliance / Thierry Roge)
    Martin Zagatta: In wenigen Minuten beginnt er auch ganz offiziell, der EU-Sondergipfel mit der Türkei.
    Mitgehört hat Gerald Knaus. Er ist der Leiter der Denkfabrik Europäische Stabilitäts-Initiative und außerdem Regierungsberater insbesondere für den Umgang mit Ländern wie Griechenland und der Türkei. Guten Tag, Herr Knaus.
    Gerald Knaus: Ja, guten Tag.
    Zagatta: Herr Knaus, wir haben es gerade gehört: In dem eigentlich schon vorbereiteten Abschlussdokument für diesen Sondergipfel heute heißt es, die Balkan-Route ist geschlossen für Flüchtlinge aus Syrien. Dagegen gibt es jetzt Widerstand. Frau Merkel ist ja dagegen. Könnte die das denn aus Ihrer Sicht überhaupt unterschreiben? Dagegen hat sie ja eigentlich die ganze Zeit gekämpft.
    Knaus: Na ja, ich glaube, es gibt zwei gute Gründe, hier wirklich Widerstand zu leisten. Das Erste ist, dass das ein katastrophales Signal an Griechenland sendet, denn es kommen derzeit immer noch an die 2.000 Flüchtlinge jeden Tag aus der Türkei nach Griechenland. In den letzten drei Monaten waren es insgesamt 230.000 Flüchtlinge, und das sind die Wintermonate. Wenn man jetzt tatsächlich versucht, die Grenze zuzumachen, und alle diese Flüchtlinge in Griechenland bleiben, dann wären das mehr, als Schweden im ganzen letzten Jahr hatte, und das bedeutet für das ohnehin in der Krise sich befindende Griechenland eine katastrophale Situation.
    Zum Zweiten wird es aber auch nicht klappen und das ist das wahrscheinlich beste Argument der Kanzlerin. Denn die Vorstellung, dass diese schwachen Balkan-Staaten Mazedonien, Albanien die Aufgabe übernehmen werden, mit unterbezahlten Polizisten, einem löchrigen Zaun, an vielen Stellen gibt es noch keinen Zaun, dass die das schaffen, was Slowenen und Kroaten nicht geschafft haben, ist auch ziemlich illusorisch. Hier braucht man bessere Lösungen.
    Zagatta: Aber was bedeutet das in der Praxis? Ist das jetzt zumindest die Aussage, das ist ein Ende der Willkommenskultur, oder was will man erreichen mit dieser Diskussion?
    Knaus: Na ja. Im Grunde genommen gab es seit September einen Ansatz, den vor allem der ungarische Premier Orbán vertreten hat. Der hat als Erstes einen Zaun gebaut, wie Sie sich erinnern. Dieser Zaun hat allerdings keinen einzigen Flüchtling abgehalten. Die wirkliche Aufgabe des Zauns war, sie in die Nachbarländer zu lenken, also unsolidarisch, den anderen in der EU die Aufgabe aufzubürden. Das sollte jetzt auch die neue EU-Politik werden nach der Meinung mancher: Man baut einen Zaun, damit werden die Flüchtlinge nicht gestoppt, sie bleiben nur in Griechenland. Das ist nur extrem unsolidarisch und uneuropäisch; es ist natürlich auch keine Lösung. Denn dass die Leute dann nicht mehr nach Griechenland kommen, dazu müssten die Umstände in Griechenland so katastrophal werden, dass man lieber in Pakistan oder Afghanistan oder auch auf der Straße in der Türkei lebt als in den dann vom UNHCR in Griechenland aufgebauten Flüchtlingslagern.
    "Was wir brauchen ist die Kooperation zwischen Griechenland und der Türkei"
    Zagatta: Jetzt setzt ja die EU und vor allem auch Deutschland bei diesem Sondergipfel darauf, dass die Türkei diese Aufgabe übernimmt. Kann denn die Türkei ihre lange Küste überhaupt abriegeln? Bisher hat sie ja immer argumentiert, das sei gar nicht möglich.
    Knaus: Und genau das ist ja der entscheidende Punkt, dass es die Türkei alleine nicht kann, und wir kommen jetzt wieder auf die erste Frage zurück, nämlich Griechenland. Was wir brauchen ist die Kooperation zwischen Griechenland und der Türkei, und das kann nur so aussehen, dass Griechenland die Leute, die die Türkei nicht abhalten kann, Griechenland zu erreichen, in Einklang mit dem griechischen Gesetz die Asylanträge, wenn sie eingebracht werden, ablehnt, die Leute in die Türkei zurückbringt, weil die Türkei ein sicherer Drittstaat ist, Flüchtlinge dort nicht verfolgt werden, und die Türkei sich bereit erklärt, die zurückzunehmen. Das ist die einzige Möglichkeit, die Kontrolle über die Ägäis herzustellen.
    Und das macht die Türkei erst dann - und das ist ganz klar formuliert worden -, wenn erstens die EU oder einige Länder der EU ihr Flüchtlinge abnehmen, also Kontingente, und wenn zweitens die VISA-Freiheit für türkische Touristen in Aussicht steht. Diese beiden Punkte, ohne die wirklich hier klar anzusprechen, wird dieser Gipfel auch bei der türkischen Haltung keine Änderungen bringen.
    "Die wirklich interessanten Gespräche finden auch gar nicht auf der Ebene der EU statt"
    Zagatta: Was kann dann bei dem Gipfel heute herauskommen? Nicht viel mehr als Absichtserklärungen, weil Kontingente, wie sie Deutschland ja befürwortet, finden keine Mehrheit. Die sind ja weit und breit nicht in Sicht.
    Knaus: Ja, und das ist seit vielen Monaten schon klar. Das heißt, die wirklich interessanten Gespräche finden daher auch gar nicht auf der Ebene der EU statt, sondern die wirklich interessanten Gespräche sind die zwischen Deutschland und einer kleinen Gruppe, inklusive der Niederlande, mit der Türkei direkt, und in diese Gespräche muss man so schnell es geht auch Griechenland integrieren.
    Denn wie gesagt: Ohne Griechenland - und das ist das schwächste Glied in diesen Plänen derzeit -, ohne griechische Unterstützung in der Verwaltung und in der Vorbereitung lässt sich auch die Rückübernahme von Flüchtlingen der Ägäis mit der Türkei gar nicht organisieren. Das wirklich spannende Treffen war wahrscheinlich das von Frau Merkel mit Herrn Davutoglu und ist das morgige Treffen in Izmir zwischen Alexis Tsipras und Herrn Davutoglu, und auf dieser Ebene muss man auch nach diesem Gipfel in den nächsten Tagen intensiv nach einer konkreten Lösung suchen.
    Zagatta: Aber wer außer Deutschland ist denn noch bereit, überhaupt eine größere Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen?
    Knaus: Das Problem war, dass die deutsche Strategie grundsätzlich richtig ist, aber bis jetzt noch nicht umgesetzt wurde, und je länger das dauerte - - Frau Merkel hat schon im Oktober davon gesprochen, man könnte Kontingente übernehmen. Die Türken haben gesagt, gut, dann schauen wir mal. Es ist dann nichts passiert für viele Monate;. Es wurde in Brüssel nach einer europäischen Einigung gesucht, die gab es dann nicht. Jetzt verhandelt Deutschland direkt mit der Türkei. Aber letztlich glauben Leute erst an diese Lösung, wenn sie auch wirklich funktioniert in der Praxis.
    Das heißt, wir brauchen zwei Signale. Zwei Dinge müssen jetzt schnell passieren. Das eine ist, dass tatsächlich von den Flughäfen in der Türkei syrische Flüchtlinge nach Europa gebracht werden, die dann nicht mehr die Ägäis überqueren. Und das Zweite ist, dass die Türkei tatsächlich jeden Tag aus Griechenland eine beträchtliche Zahl von Leuten zurücknimmt. Wenn diese beiden Dinge beginnen und das müsste man jetzt organisieren, dass das in den nächsten Wochen losgeht, dann, glaube ich, werden auch viele, die jetzt skeptisch sind, wieder beginnen zu denken, vielleicht ist das doch besser als der Versuch, einen Zaun um Mazedonien zu bauen, der wohl nicht sehr lange halten wird.
    "Man sucht immer noch nach einer europäischen Lösung"
    Zagatta: Aber noch mal: Wer außer Deutschland ist denn dazu bereit? Dass sich die Bundesregierung mit solchen Zusagen noch zurückhält, hängt das mit den Landtagswahlen zusammen, dass man dieses Signal vorher nicht setzen will?
    Knaus: Ich glaube nicht. Ich glaube, wenn die Bundeskanzlerin jetzt einen klaren Plan präsentiert, das wäre dann auch in Deutschland Erleichterung. Ich glaube, es liegt schon daran, dass man immer noch nach einer europäischen Lösung sucht und jetzt immer mehr erkennt, die wird es nicht geben. Auch dieser Gipfel ist wahrscheinlich der letzte Versuch und wenn die Europäische Union sich hier darauf einigt zu beschließen, Griechenland auszusperren durch einen Zaun, dann wäre es auch ein katastrophales Ende dieser europäischen Suche nach einer Lösung, indem man nämlich alles auf ein Mitgliedsland ablädt.
    Aber was die Kanzlerin braucht ist Leute wie die Niederlande. Da gibt es sowohl den Premierminister als auch den Chef der Arbeiterpartei, die schon in den letzten Tagen klar gesagt haben, man wäre bereit, unter gewissen Umständen auch Kontingente zu übernehmen.
    Und natürlich auch Länder wie Österreich oder Schweden, und da ist jetzt die Frage, ob die Österreicher tatsächlich an den Zaun glauben. Denn wenn sie selbst Zweifel bekommen, dann wäre das jetzt in diesem Moment der richtige Augenblick, um zu sagen, gut, wir haben derzeit mal die Flüchtlingsbewegung auf dem Balkan gestoppt, das ist allerdings keine Lösung, aber verwenden wir das doch als Aufhänger, um jetzt mit der Übernahme von Flüchtlingen aus der Türkei zu beginnen. Denn ansonsten haben wir vielleicht in wenigen Wochen, wenn der Frühling auch am Balkan die Routen wieder begehbar macht, überall die gleiche Szene wie letztes Jahr und dann überhaupt keine Hoffnung mehr, und dann stehen wir genau dort, wo wir eigentlich schon vor sechs Monaten standen.
    Zagatta: Aber ist nicht genau das zu befürchten, wenn man realistisch ist? Österreich argumentiert ja jetzt schon, man hat prozentual auf die Bevölkerung gesehen mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland.
    Sie nennen jetzt auch, wenn Sie sagen, in Europa gibt es Bereitschaft, drei, vier Länder. Das heißt, mehr als 20 machen da nicht mit. Ist es dann nicht realistisch, der EU-Gipfel verabschiedet wieder eine hehre Erklärung und die Flüchtlingskrise, die wird sich noch weiter zuspitzen?
    Knaus: Wie gesagt, ich fürchte, der EU-Gipfel könnte sogar, wenn die Bundeskanzlerin sich nicht durchsetzt, eine sehr schädliche Erklärung verabschieden. Denn wie gesagt, ohne Griechenland kann man die Krise nicht lösen. Und wenn man Griechenland gleichzeitig abverlangt, die Asylverfahren abzuwickeln und Flüchtlinge in die Türkei zurückzuschicken, und gleichzeitig damit rechnen muss, dass Hunderttausende Leute in Griechenland feststecken, und gleichzeitig man Griechenland signalisiert, wir lösen das Problem auf eure Kosten, das passt nicht zusammen.
    Die Bundeskanzlerin hat schon recht, wenn sie sagt, wir können jetzt nicht hoffen, dass Griechenland mit der Türkei in der Ägäis zusammenarbeiten, und gleichzeitig sagen, ja gut, in der Zwischenzeit soll das UNHCR mal helfen, hier die Flüchtlingszelte aufzubauen wie in Jordanien, in einem EU-Mitgliedsland, weil hier jetzt in den nächsten Tagen Hunderttausende kommen werden.
    Das muss man zusammen denken. Daher glaube ich auch tatsächlich, dass das wichtigste Gespräch und die wichtigsten Entscheidungen immer noch in Berlin und in Ankara und dann auch in Athen stattfinden werden. Die EU hat sich leider durch fehlende Solidarität, auch durch nicht sehr klares Denken und durch schlechte Umsetzung von manchmal auch vernünftigen Plänen vollkommen ins Abseits manövriert.
    Zagatta: Gerald Knaus war das, der Leiter der Denkfabrik Europäische Stabilitäts-Initiative. Herr Knaus, herzlichen Dank für das Gespräch.
    Knaus: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.