Donnerstag, 25. April 2024

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Flüchtlingspolitik
"EU fehlen die Instrumente, mit der Situation angemessen umzugehen"

Der Appell von Donald Tusk zeige die ganze Hilflosigkeit, mit der die Europäische Union dieser Flüchtlingskrise gegenüberstehe, sagte der Politikwissenschaftler Eckart Stratenschulte im DLF. Die Wendung bringe ein solcher Appell aber nicht.

Eckart Stratenschulte im Gespräch mit Jasper Barenberg | 03.03.2016
    Europaflaggen vor der Europäischen Kommission in Brüssel.
    Die EU stehe der Flüchtlingskrise völlig hilflos gegenüber, sagte der Politikwissenschaftler Eckart Stratenschulte im DLF. (picture alliance/dpa/Daniel Kalker)
    Jasper Barenberg: "Kommen Sie nicht nach Europa!" Was sagt dieser Appell von EU-Ratspräsident Tusk in Athen über den Zustand der Union in Zeiten der Flüchtlingskrise? Das habe ich vor dieser Sendung den Politikwissenschaftler Eckart Stratenschulte gefragt.
    Eckart Stratenschulte: Der Appell von Donald Tusk zeigt die ganze Hilflosigkeit, mit der die Europäische Union dieser Flüchtlingskrise gegenübersteht. Nun an die Flüchtlinge zu appellieren, sie sollten doch lieber zuhause bleiben, das wird sicherlich die Wendung nicht bringen. Es zeigt aber, dass die Europäische Union im Augenblick nicht wirklich über Instrumente verfügt, mit der Situation angemessen umzugehen.
    Barenberg: Es zeigt aber auch, dass stimmt, was nicht nur die Kanzlerin jetzt fast täglich sagt, sondern was sich allgemein als Parole durchzusetzen scheint: Die Zeit des Durchwinkens ist vorbei.
    Stratenschulte: Ja. Das ist ja auch eine gute Parole. Das ist ja auch vernünftig. Aber die Zeit des Durchwinkens wird nur vorbei sein, wenn man entweder ein Gesamtkonzept hat und das auch gemeinsam realisiert, oder wenn man die gesamte Verantwortung einem Land aufbürdet, sei es die Türkei oder sei es Griechenland, und die quasi zwingt, keinen Flüchtling mehr rauszulassen, aber das ist natürlich beides nicht realistisch.
    "Es findet ein ziemliches Griechenland-Bashing statt"
    Barenberg: Und sind wir an dem Punkt, wo wir sagen müssen, im Moment passiert genau das, ganz Europa lässt Griechenland mit dem Problem allein?
    Stratenschulte: Ja, das ist so, und es findet ja dazu noch ein ziemliches Griechenland-Bashing statt, was aufbaut auf den Vorurteilen, die es über Griechenland aus anderen Situationen gibt. Aber es ist doch völlig klar, dass Griechenland die Situation alleine nicht bewältigen kann. Es ist doch ironisch, dass Länder wie die Bundesrepublik Deutschland oder auch ein Land wie Österreich sagen, wir sind zu schwach, um mit der Situation zurecht zu kommen, und dann gleichzeitig sagen, das sollen die Griechen alleine machen. Das kann nicht funktionieren.
    "Dieser Gipfel könnte der Wendepunkt für mehr Zusammenarbeit sein"
    Barenberg: Nun haben wir ja gerade erlebt, dass ein EU-Gipfel gescheitert ist, jedenfalls keine konkreten Ergebnisse gebracht hat, wo es einmal mehr um die Frage ging, wie kann man Gemeinsamkeiten finden im Umgang mit den vielen Flüchtlingen. Wenn wir jetzt die Entwicklung der letzten Tage uns vor Augen führen, kann man dann sagen, das ist ein neuer Tiefststand, wenn es darum geht, in Europa zusammenzuarbeiten?
    Stratenschulte: Wenn es jetzt der Tiefststand ist, das ist ja ganz schön. Dann geht es ab nun wieder bergauf. Ich hoffe, das ist so. Die Kanzlerin treibt ja schon Enttäuschungs-Management, indem sie sagt, wenn es bei diesem Gipfel nicht klappt, dann beim nächsten.
    Aber in der Tat wird, glaube ich, mittlerweile allen Akteuren klar, dass wir handeln müssen und dass wir gemeinsam handeln müssen und dass der Versuch, jeweils eine nationale Lösung zu implementieren, nicht funktioniert. Insofern könnte von diesem Gipfel sicherlich nicht die Lösung ausgehen, aber er könnte der Wendepunkt sein, dass man doch wieder zu mehr Zusammenarbeit kommt, wenn nicht mit 28, dann vielleicht mit 10 oder 12 Staaten.
    "Hier geht es um ein Gesamtsystem"
    Barenberg: Wo sehen Sie denn dieses Bewusstsein ausgeprägt oder dieses Bewusstsein wachsen? Jedenfalls nicht in Wien.
    Stratenschulte: Nein, in Wien im Augenblick nicht. Aber es merken doch mehr und mehr Staaten, dass die Flüchtlingskrise nicht isoliert werden kann, sondern dass daran Schengen hängt und dass an dem Schengen auch ein Teil des Wohlstandes hängt, von dem wir leben, dass an Schengen auch der Binnenmarkt hängt, und da sieht man, dass Länder doch anfangen, sich zu bewegen. So was haben wir jetzt beispielsweise gerade in Portugal beobachtet, wo die portugiesische Regierung sagt, sie wollen mehr Flüchtlinge aufnehmen.
    Das sind dann immer noch sehr geringe Zahlen, aber es zeigt, dass immer klarer wird, hier geht es um ein Gesamtsystem und man kann nicht einfach ein Element rausnehmen und denken, der Rest in diesem System funktioniert einfach so weiter.
    "Das ist enormer sozialer Sprengstoff"
    Barenberg: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt ja vor allem und in erster Linie auf diesen Aktionsplan mit der Türkei. Auch da sind ja Gespräche für den nächsten EU-Gipfel geplant. Läuft es darauf hinaus, dass die Türkei Europa das Flüchtlingsproblem abnehmen soll?
    Stratenschulte: Ja das ist die Hoffnung der Europäischen Union. Das wird allerdings nur zu einem Teil funktionieren können. Wir müssen ja fairerweise sehen, die Türkei hat zweieinhalb Millionen Flüchtlinge im Land.
    Kein verantwortlicher türkischer Politiker kann mit so einer Situation auf Dauer leben, dass in riesigen Flüchtlingslagern zweieinhalb Millionen Menschen leben und dort weiterhin leben werden, und dann haben Sie irgendwann Flüchtlinge in der vierten Generation. Wir kennen das aus Palästina, das ist enormer sozialer Sprengstoff. Deswegen wird die Türkei nur kooperativ sein, wenn wir einerseits einen Preis bezahlen, und zwar nicht nur in Geld, sondern auch in Politik, aber andererseits auch anbieten, dass wir die Herausforderung gemeinsam meistern, und das war ja auch die Überlegung von Bundeskanzlerin Merkel, dass man sagt, man nimmt dann Kontingente von Menschen, die in der Türkei Schutz gesucht haben, auch ab.
    Wenn wir jetzt den Türken einfach sagen, behaltet sie alle und sorgt dafür, dass keiner mehr euer Land verlässt, dann wird das nicht funktionieren.
    Es ist übrigens auch eine rechtliche Frage: Mit welchem Recht hält die Türkei eigentlich Menschen auf, die das Land verlassen wollen? Das ist ja kein Gefängnis. Das erwarten wir jetzt aber eigentlich von der türkischen Regierung. So ganz einfach wird es nicht gehen.
    "Wir können nicht einfach sagen, liebe Türken, behaltet alle Flüchtlinge"
    Barenberg: Wenn Sie sagen, mit vorsichtigem Optimismus, würde ich es mal nennen, der nächste EU-Gipfel am Montag könnte so etwas wie einen Wendepunkt markieren, was wäre denn bestenfalls für ein Ergebnis zu erwarten, wenn es um eine solche Wende und mehr Gemeinsamkeit gehen kann?
    Stratenschulte: Das bestmögliche Ergebnis, das bestmöglich realistische Ergebnis ist meines Erachtens, dass ein Teil der EU-Staaten plus die Türkei sich darauf verständigen, jetzt die Frage gemeinsam anzugehen, dass man das, was man der Türkei schon an Hilfen zugesagt hat, auch zügig auszahlt, dass man darüber auch noch mal redet, ob das in der Höhe reicht, und dass gleichzeitig eine Reihe von Staaten sagen, wir sind aber auch bei der weiteren Bewältigung der Krise hilfreich und sagen nicht einfach, liebe türken, bitte behaltet alle Flüchtlinge.
    Barenberg: Der Leiter der Europäischen Akademie in Berlin, der Politikwissenschaftler Eckart Stratenschulte hier im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.
    Stratenschulte: Bitte sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.