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Flüchtlingspolitik
"Wir haben eine Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen"

"Wir schauen aufs Geld", sagte der neu gewählte Bremer Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) im DLF. Aber man habe auch eine humanitäre Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen. Debatten, wie sie derzeit in Bayern geführt werden, hält er für ein wohlhabendes Industrieland wie Deutschland nicht für angemessen.

Carsten Sieling im Gespräch mit Doris Simon | 21.07.2015
    Bremens Bürgermeister Carsten Sieling
    Carsten Sieling (SPD) wurde am 15. Juli 2015 von der Bremischen Bürgerschaft zum Regierungschef gewählt (picture alliance/dpa/Ingo Wagner)
    Die CSU hatte rigorose Maßnahmen gegenüber Asylbewerbern ohne Bleibeperspektive vor allem gegenüber denen aus dem Balkan vorgeschlagen. Sieling sprach sich im DLF gegen Rückführungen aus. "Ich bin dafür, dass wir genauer gucken, welche Potenziale in unser Land kommen." Es seien teilweise gut qualifizierte Kräfte und die Wirtschaft frage nach Fachkräften. Außerdem sprach er sich dafür aus, über ein Einwanderungsgesetz zu sprechen und insbesondere dem Vorschlag der Bundesagentur für Arbeit mit der Blue Card zu folgen.
    Es gebe eine Verpflichtung, Flüchltingen zu helfen, so Sieling. "Sie kommen ja nicht aus freien Stücken, sondern weil sie in ihren Regionen, in ihrer Heimat verfolgt werden und eben dort nicht mehr bleiben können."
    Mehr Unterstützung für die Länder vom Bund gefordert
    Bei der Aufnahme von Flüchtlingen seien Städte und Kommunen stark belastet, so der SPD-Politiker. Er forderte deutlich mehr finanzielle Unterstützung des Bundes. Er zeigte sich jedoch zuversichtlich, denn der Bund könne mehr Einnahmen generieren als die Länder.
    Maßnahmen in Bayern für Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive
    Die CSU-geführte Landesregierung in Bayern hatte die Einrichtung von zwei neuen Erstaufnahmeeinrichtungen beschlossen. Dort sollen Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive untergebracht und Asylverfahren bereits nach zwei Wochen entschieden sein.

    Das Interview in voller Länge
    Doris Simon: Auswanderermuseen wie in Antwerpen oder Bremerhaven sind beliebt – dort kann man gut nachempfinden, wie unsere Vorfahren aus Not oder unter Verfolgungsdruck ihr Glück anderswo suchen mussten. Noch direkter kann man aber erleben, wie sich Flucht und Migration heute anfühlt vor der eigenen Haustür, denn in fast jeder deutschen Gemeinde gibt es inzwischen Flüchtlinge und es werden immer mehr.
    Auch wenn sich viel getan hat in den Köpfen und in Bürokratien, Städte und Kommunen kommen nicht mehr nach, die Aufnahmestellen sind überfüllt, die ersten Großzelte schon belegt und die Konflikte mit den Anwohnern nehmen, bei allem gesellschaftlichen Engagement, zu. Am letzten Wochenende dann Brandstiftung in vorgesehenen Flüchtlingsheimen im badischen Remchingen und im oberbayrischen Reichertshofen, also an Orten, in Gegenden, an denen es eigentlich an nichts fehlt.Gleichzeitig fordert die CSU, die Standards in der Flüchtlingspolitik müssten gesenkt werden, um die Kosten zu drücken, der rechtliche Rahmen dafür müsse voll ausgeschöpft werden.
    Carsten Sieling ist seit sechs Tagen, also frisch gebacken, offiziell im Amt als Bürgermeister der Hansestadt Bremen und jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Carsten Sieling: Guten Morgen, Frau Simon!
    Simon: Herr Sieling, geben wir zu viel Geld für Flüchtlinge aus?
    Sieling: Nein, wir geben zu wenig Geld dafür aus, weil wir in einer Situation sind, dass in der Tat, wie Sie beschrieben haben, die Städte und Kommunen stark belastet sind, und die müssen versuchen, das hinzubekommen. Wir brauchen deutlich größeres Engagement des Bundes und mehr Unterstützung von hier.
    Simon: Herr Sieling, Bremen ist ja ein armer Stadtstaat, aber müssen Sie nicht gerade deswegen auch auf das Geld schauen und verstehen, dass man da ein bisschen guckt, so wie die Bayern das machen?
    "Politischen Eiferern muss man sich drastisch entgegenstellen"
    Sieling: Wir schauen drauf und wir gucken, aber wir haben auch eine humanitäre Verpflichtung, und derartige Debatten wie ich sie aus Bayern vernehme, halte ich nicht für angemessen für das entwickeltste Industrieland in Europa, für auch das Land mit dem größten Wohlstand. Wir haben eine Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen, sie kommen ja nicht von selbst und aus freien Stücken, sondern weil sie in ihren Regionen, in ihrer Heimat verfolgt werden und eben dort nicht mehr bleiben können,
    Simon: Wenn wir auf die brennenden Heime, in denen Gott sei Dank niemand war, schauen – gibt es aus Ihrer Sicht, Herr Sieling, einen Zusammenhang zwischen der Gewalt und den steigenden Asylbewerberzahlen?
    Sieling: Ich glaube, das wird genutzt, das wird genutzt von Personen, die Fremdenfeindlichkeit in sich tragen. Es ist doch nicht erklärbar, dass gerade in den Regionen, die Sie auch benannt haben, jetzt eine Situation wäre, dass das dort die Gesellschaften überfordert. Das sind politische Eiferer und denen muss man sich drastisch entgegenstellen und darf dann nicht noch Unterstützung signalisieren, indem man Debatten führt darüber, die Standards seien zu hoch und Ähnliches.
    Simon: Wie argumentieren Sie denn gegenüber den Bürgern in Bremen?
    Sieling: Wir haben erst mal in Bremen, Gott sei Dank, nach wie vor eine breite Unterstützung, aber wir sagen, dass wir alle Kraft dafür mobilisieren wollen, dass wir um die Unterstützung des Bundes werben, und ansonsten greifen wir auch zu allen möglichen Maßnahmen, um den Menschen Unterbringungen zu ermöglichen. Ich sage Ihnen, wir sind auch so weit, dass wir Zelte aufstellen müssen.
    Simon: Was passiert denn, wenn vom Bund nicht mehr kommt?
    Sieling: Das kann ich mir gar nicht vorstellen, weil es erstens dort, Gott sei Dank, Verabredungen gibt und auch erstes Geld schon für dieses Jahr fließt, für kommendes Jahr mehr vereinbart worden ist. Darüber muss allerdings noch gesprochen werden, dass das noch weiter verstärkt wird. Ich kann mir das deshalb nicht vorstellen, weil wir doch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung haben, und alle wissen, dass der Bund die Möglichkeiten hat, Einnahmen zu generieren und dies auch tut, während die Länder und die Kommunen dort eindeutig weniger Reaktionskraft haben.
    "Ich bin für Maßnahmen, aber nicht für die der Rückführung"
    Simon: Herr Sieling, die CSU schlägt, wie eingangs gehört, rigorose Maßnahmen vor, vor allem gegenüber den Asylbewerbern vom Balkan. Sind Sie auch dafür, Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive konsequenter als bisher zurückzuführen?
    Sieling: Ich bin für Maßnahmen, aber nicht für die der Rückführung. Ich bin dafür, dass wir genauer gucken, welche Potenziale dort in unser Land kommen. Es sind teilweise hoch- und gut qualifizierte Kräfte. Unsere Wirtschaft fragt nach Fachkräften, übrigens insbesondere in Süddeutschland, weshalb ich diese CSU-Position gar nicht verstehen kann. Ich fände es klug, über ein Einwanderungsgesetz zu reden und insbesondere den Vorschlag aus der Bundesagentur für Arbeit zu folgen und zu sagen, dass die Möglichkeiten, die die Blue Card bietet, die sogenannte Blue Card, um die Kräfte hier arbeiten zu lassen, dass die auch für Flüchtlinge gelten und damit vereinfacht werden.
    Simon: Aber Herr Sieling, gerade viele Zuwanderer vom Balkan, Flüchtlinge sind nicht so qualifiziert, dass sie auch nur ansatzweise für die Blue Card infrage kommen.
    Sieling: Das stimmt sicherlich für auch Flüchtlinge aus den Gegenden. Es gibt natürlich die Debatten darüber und die Überlegung, ob man einzelne Länder zum Beispiel stärker als sichere Herkunftsstaaten einschätzen sollte, natürlich muss man dem auch folgen, aber wenn wir das Problem für die lösen oder denen besonders helfen und ihnen die Möglichkeit geben, an der deutschen Wertschöpfung teilzuhaben, sie mit zu unterstützen, die das können, dann haben wir natürlich auch mehr Luft für die Menschen, die vielleicht einen längeren Anlauf brauchen, um in Deutschland Fuß fassen zu können.
    Simon: Es gibt ja auch Überlegungen, dass man weitere Balkanländer als sichere Herkunftsländer einstufen lässt, so wie das mit einigen ja schon passiert ist. Das würde dann Albanien, Kosovo, Montenegro betreffen – sind Sie dafür?
    Sieling: Das ist gerade in der Diskussion. Wir prüfen das in Bremen noch und haben dazu noch keine abgeschlossene Position, sehen aber, dass diese Debatte natürlich läuft.
    Simon: Das heißt, Sie könnten sich vorstellen, das zu unterstützen?
    Sieling: Ich habe persönlich auch unterstützt die Einschätzung anderer Länder dort als sichere Herkunftsstaaten, nur weiß ich auch, dass wir dort sehr, sehr vorsichtig sein müssen und deshalb kann ich Ihnen jetzt noch keine Unterstützung zusagen.
    Simon: In manchen anderen EU-Ländern, wie zum Beispiel in Polen oder Tschechien, will man ja nur christliche Flüchtlinge aufnehmen. Gibt es für Sie, Herr Sieling, Restriktionen bei der Aufnahme von Migranten, die Sie für sinnvoll halten würden?
    Sieling: Ich finde gerade mit einem christlichen Weltbild verbietet es sich zu differenzieren nach Glaubensrichtung, sondern muss man doch alle Menschen gleich behandeln. Ich kann auch diese Diskussion schwer verstehen, und wir erwarten ja von den anderen EU-Partnern berechtigt, dass sie auch ihre Verantwortung wahrnehmen und nicht das eine ins Töpfchen und das andere ins Kröpfchen tun.
    "Wir werden vor dem Elend in dieser Welt nicht weglaufen können"
    Simon: Herr Sieling, Sie sagten eingangs, dass auch in Bremen inzwischen Flüchtlinge in Zelten untergebracht werden müssen, weil es einfach keinen Platz mehr gibt. Absehbar werden ja nicht weniger, sondern mehr Flüchtlinge kommen – wie groß ist denn die Chance oder die Gefahr, dass Sie in ein paar Monaten unter dem Druck der Umstände dann doch auf vieles einschwenken, was die Union jetzt fordert?
    Sieling: Das will ich nicht hoffen, und dagegen arbeiten wir unter Hochdruck, versuchen natürlich, nicht nur auf Zeltplätze zu setzen, weil der Sommer wird sein Ende finden und dann geht das nicht mehr, deshalb werden jetzt auch andere Orte gesucht.
    Ich spreche auch deshalb sehr darüber, dass wir, wie gesagt, die europäischen Bemühungen unterstützen, andere Länder zu finden. Wir werden ja dem Elend in dieser Welt, vor diesem Elend nicht weglaufen können, und wir werden ja nicht weglaufen können vor den fliehenden Menschen, von daher müssen wir einen Umgang damit finden, was nicht heißen kann, wir machen einfach die Grenzen dicht.
    Simon: Das war Carsten Sieling, der neue Bürgermeister der Hansestadt Bremen. Herr Sieling, vielen Dank für das Gespräch!
    Sieling: Gerne!
    Simon: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.