Freitag, 29. März 2024

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Flüchtlingsschiff "Lifeline"
"Wenn wir in Seenot nicht mehr retten, ist unsere Kultur am Ende"

Die "Lifeline" harrt seit Tagen mit 234 Flüchtlingen an Bord vor der Küste Maltas aus. Der Grünen-Politiker Manuel Sarrazin war vor Ort und hat die Arbeit der zivilen Rettungsorganisationen verteidigt. Die Menschen gingen selbst dann auf See, wenn sie davon ausgingen zu ertrinken, sagte Sarrazin im Dlf.

Manuel Sarrazin im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 26.06.2018
    Das deutsche Rettungsschiff der "Mission Lifeline" und ein Boot der libyschen Küstenwache vor der libyschen Küste.
    Das deutsche Rettungsschiff der "Mission Lifeline" und ein Boot der libyschen Küstenwache vor der libyschen Küste. (dpa /Hermine Poschmann/Mission Lifeline via AP)
    Dirk-Oliver Heckmann: Vor einer Woche erst hielt uns das Flüchtlingshilfsschiff "Aquarius" in Atem. Die neue italienische Regierung mit dem rechtspopulistischen Innenminister Salvini verweigerte ihm, einen italienischen Hafen anzulaufen. Nach tagelanger Irrfahrt konnte das Schiff mit 630 Migranten an Bord im spanischen Valencia anlegen.
    Ein dänischer Frachter durfte jetzt in Italien ankern. Sie haben es gerade in den Nachrichten gehört. Jetzt irrt aber das Schiff mit dem Namen "Lifeline" im Mittelmeer umher. Auch hier schieben sich Malta und Italien die Verantwortung gegenseitig zu. Auch Spanien hat es jetzt abgelehnt, das Schiff aufzunehmen.
    Am Telefon ist Manuel Sarrazin. Er sitzt für Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag und er hat sich in der Nacht zu Montag gemeinsam mit dem Linken-Bundestagsabgeordneten Michel Brandt auf das Schiff begeben, um sich ein Bild zu machen. Schönen guten Morgen, Herr Sarrazin!
    Manuel Sarrazin: Guten Morgen!
    Heckmann: Mittlerweile sind Sie ja wieder nach Berlin zurückgekehrt. Was sind denn die Bilder gewesen, die Sie gesehen haben, als Sie das Schiff betreten haben? Können Sie das beschreiben?
    Sarrazin: Wenn man das Schiff betritt, tritt man buchstäblich auf Menschen. Die Menschen sitzen eng gedrängt, wirklich Körper an Körper, Haut an Haut. Sie kommen aus unterschiedlichen Ländern, sprechen unterschiedliche Sprachen, haben unterschiedliche Religionen und unterschiedliche Kulturen, und jetzt ist es Tag sechs inzwischen, der sechste Tag, den sie auf diesem kleinen Schiff, 50, 60 Jahre alt, auf Deck, Wind und Wetter ausgesetzt, verbringen. Die Wettervorhersage für heute und morgen ist nicht gut und deswegen kann es richtig gefährlich werden in den nächsten Stunden.
    Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin
    Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Manuel Sarrazin (picture alliance / Markus Scholz / dpa)
    Heckmann: Das heißt? Was meinen Sie damit?
    Sarrazin: Als ich gestern auf Malta losgeflogen bin, habe ich mal in meine App auf dem Handy geguckt, und da stand nur "Wetterwarnung: Flutwelle". Jetzt wissen wir auch, dass die Wetterwarnungen auf dem Handy manchmal nicht stimmen, aber der Kapitän geht davon aus, dass im Laufe des heutigen Abends und morgen es richtig zu Seenotsituationen kommen könnte, wenn die Wellen auf anderthalb Meter ansteigen und Seekrankheit natürlich ein Problem ist für diese Menschen, die nicht unbedingt hochseetauglich sind.
    Und wenn man 234 seekranke Menschen an Bord hat, die eng aneinander gedrängt sind, ist das nicht nur wie jetzt humanitär nicht zumutbar, sondern dann wird es auch gefährlich, weil die natürlich auch vielleicht nicht so vernünftig reagieren und das Schiff nicht so richtig dafür geeignet ist, so viele Menschen zu transportieren.
    "Insgesamt ist die Lage einfach unzumutbar"
    Heckmann: Wie läuft die Versorgung dieser Menschen ab?
    Sarrazin: Es gibt Versorgung an Bord, die aber natürlich nicht besonders gut ist und auch nicht dazu gedacht ist, Menschen so lange an Bord zu halten. Normalerweise ist es immer so gelaufen, dass die Menschen schnell übernommen wurden, weil diese Schiffe ja gar nicht unbedingt dazu gedacht sind, Leute selber zu retten, sondern dazu gedacht sind, zu sichten und Hilfe zu rufen und gegebenenfalls kurzfristig welche an Bord zu holen. In diesem Fall war es so, dass die Menschen schnell an Bord mussten, weil sie sonst ertrunken wären.
    Die maltesischen Behörden haben es ermöglicht, dass Einkäufe, die die Nichtregierungsorganisationen an Land in Malta gemacht haben, von ihnen zum Schiff gebracht wurden. Letzte Nacht gab es wohl auch eine medizinische Evakuierung eines medizinischen Notfalls. Aber insgesamt ist die Lage einfach unzumutbar und sie wird mit jedem Tag natürlich gefährlicher, weil die Nerven der Menschen natürlich total angespannt sind, weil sie da so festhängen und nicht wissen, wo sie hinkommen, und Angst haben, nach Libyen zurückzukommen.
    Heckmann: Jetzt wartet das Schiff vor Malta. Malta sagt aber: Nein, hier könnt ihr nicht ankern, hier könnt ihr nicht in den Hafen reinfahren. Gibt es Überlegungen, einen anderen Hafen anzulaufen?
    Sarrazin: Für wahnsinnig viel anderes reicht der Sprit langsam nicht mehr. Das muss man ja auch sehen. Der Sprit geht langsam zur Neige. Das Schiff fährt mit kleiner Geschwindigkeit von vier Knoten, um eine Stabilität auf See zu haben, damit es nicht so schaukelt. Viele Möglichkeiten gibt es nicht mehr, außer Safe Port Valletta, vielleicht noch was auf Sizilien, oder eine Übernahme auf See. Das heißt, ein anderes Schiff kommt raus und übernimmt die Menschen an Bord, ein geeigneteres Schiff.
    Salvini bei der Vereidigung der neuen Regierung Anfang Juni
    Der italienische Innenminister Matteo Salvini will keine Flüchtlinge in seinem Land mehr aufnehmen (imago / Xinhua)
    "Dass sie lieber sterben, als in Libyen zu bleiben"
    Heckmann: Der neue italienische Innenminister Salvini von der rechtspopulistischen Lega, der hat gestern noch mal betont, diese Schiffe, die können es vergessen, Italien zu erreichen. "Ich will die Geschäfte von Schleppern und Mafiosi unterbinden!" Was sagen Sie dazu?
    Sarrazin: Man muss sich mal vor Augen führen, dass die Rettung vor Libyen jetzt der libyschen Küstenwache überlassen wird. Ich habe mit den Flüchtlingen an Bord persönlich geredet und jeder hat mir gesagt, dass sie lieber sterben, als in Libyen zu bleiben. Das heißt, dass sie lieber auf die Boote gehen und wissen, dass von vieren drei wahrscheinlich ertrinken, als in Libyen zu bleiben, weil sie dort gefoltert werden, weil sie dort erpresst werden, weil sie dort zum Teil versklavt werden, vergewaltigt werden.
    Die Zustände dort sind wirklich abseits dessen, was wir uns überhaupt vorstellen können. Vor dem Hintergrund den zivilen Seenot-Rettungsorganisationen vorzuwerfen, Schlepper und Helfershelfer zu sein, wenn man selber die libysche Küstenwache für die Rettung verantwortlich macht, wo man auch darüber diskutieren kann, ob dort nicht gewisse Interessen sich überschränken mit denen von Schleppern und Helfershelfern, halte ich für wirklich nicht sachgemäß.
    Heckmann: Aber trotzdem, Herr Sarrazin, gibt es viele Deutsche, die diese Bilder sehen von den Flüchtlingsschiffen und sich fragen: Die können wir doch nicht alle aufnehmen. Können wir, oder müssen wir nicht die zurückbringen, die keinerlei Anspruch haben auf politisches Asyl?
    Sarrazin: Wissen Sie, wenn Sie einen alten Seemann fragen, der im Zweiten Weltkrieg irgendwie auf See gekämpft hat, dann ist immer die Geschichte: Erst haben wir mit einem U-Boot das Schiff abgeschossen und danach hat man versucht, die Leute aus dem Meer zu ziehen. Auf See wird gerettet! Man kann nicht Menschen, die ertrinken, im Wasser lassen, und das ist die konkrete Situation, die sowohl im Großen gilt wie auch im Kleinen gilt. Für die 234 Menschen auf diesem Schiff gilt, sie wären vor den Augen eines Kapitäns ertrunken. Das darf man auch nicht!
    Ich komme aus Hamburg. Wenn wir jetzt anfangen, in Seenot nicht mehr zu retten, dann ist unsere Kultur, glaube ich, nicht nur, was europäische Werte angeht, am Ende, sondern auch, was viel grundlegendere Werte noch angeht am Ende. Das heißt, in konkreter Situation, wo es um Leib und Leben geht, zuzugucken, wie Menschen sterben, und nicht einzugreifen, ist meiner Ansicht nach keine Option.
    "Die Menschen gehen auf See, obwohl sie davon ausgehen, dass sie sterben werden"
    Heckmann: Auf der anderen Seite gibt es den Vorwurf an die Flüchtlingsorganisationen, dass sie immer mehr Migranten dazu motivieren, sich in die Schlauchboote zu begeben, weil sie und auch ihre Schlepper wissen, im Mittelmeer kreuzen diese Flüchtlingsorganisationen, die sie aufnehmen.
    Sarrazin: Wie gesagt, ein Flüchtling, mit dem ich geredet habe, aus Sierra Leone, ist mit fünf Leuten losgelaufen, zwei Jahre unterwegs durch die Sahara. Dann kommen die in Libyen an, werden mehrfach vergewaltigt oder misshandelt, oder sie müssen Tausende von Euro von ihren Familien überweisen lassen, damit die Misshandlungen aufhören. Dann sind die am Strand und dann sagt er, er hat auf zwei Booten keinen Platz bekommen. Beide Boote sind vor seinen Augen mehr oder weniger - er hat mitbekommen, dass alle auf diesen Booten ersoffen sind. Und er ist trotzdem aufs dritte Boot gegangen.
    Die Menschen gehen nicht auf See, weil sie denken, sie werden gerettet. Die Menschen gehen auf See, obwohl sie davon ausgehen, dass sie sterben werden. Es ist total egal, ob dort Schiffe herumkreuzen oder nicht; die Menschen werden weiter auf See gehen.
    Antonio Tajani
    EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani will die Route über das Mittelmeer schließen (imago /Belga)
    Heckmann: Das heißt, es gibt keinen sogenannten Pull-Effekt?
    Sarrazin: Nein! Meiner Ansicht nach gibt es ihn nicht, außer man würde die gesamte Schifffahrt im Mittelmeer einstellen, weil ja irgendwelche Schiffe immer da sind. Wir haben den Fall der "Alexander Maersk", des Schiffes aus Dänemark. Es gibt ja auch Handelsschiffe, und auch die müssen ja retten, wenn sie jemanden sehen.
    "Ein Zaun übers Mittelmeer wird man nicht bauen können"
    Heckmann: Es gibt aber auch die italienische, die griechische, die spanische und die französische Marine, und auch denen könnte man die Seerettung doch überlassen.
    Sarrazin: Das könnte man machen. Aber jetzt wird die Seenotrettung vor Libyen im Suchbereich der libyschen Küstenwache überlassen, die die Menschen zurückholt an Land in menschenrechtlich nicht hinnehmbare Zustände. Wenn die libysche Küstenwache auf so ein Schlauchboot trifft, springen die Leute zum Teil ins Wasser, um lieber gleich zu ertrinken. Das ist die Situation, die real dort ist.
    Ich würde jedem, der sagt, man kann mit Libyen zusammenarbeiten, raten, einmal mit einem Flüchtling darüber zu reden, was der in Libyen erlebt hat, und dann in einen Spiegel zu gucken und zu sagen, ob man das eigentlich verantworten kann, wenn man über europäische Werte redet.
    Heckmann: EU-Parlamentspräsident Tajani hat gestern gefordert, die Mittelmeer-Route zu schließen, so wie die Balkan-Route ja auch geschlossen worden ist. Er fordert dafür Milliarden. Liegt er falsch?
    Sarrazin: Vielleicht will man die Mittelmeer-Route schließen mit einem Berg von Leichen, der aus dem Wasser so hochkommt, dass keine Schiffe mehr darüber fahren können. Es ist eine absurde Vorstellung, dass man Seenotrettung so betreiben kann, oder auf See so Grenzen behandeln kann, wie man das an Land kann. Einen Zaun übers Mittelmeer wird man nicht bauen können.
    Das Einzige, was man machen kann, ist, dass man wegschaut, wie Tausende von Menschen sterben. Das ist die Option und da kann man sich jetzt moralisch für entscheiden, auf welcher Seite man steht.
    Heckmann: Die Nachrichtenagentur AFP meldet unter Berufung auf "Lifeline"-Sprecher, dass eine Lösung doch möglicherweise gefunden sein könnte, dass man möglicherweise dann doch in Malta anlanden kann. Herr Sarrazin, danke Ihnen für Ihre Eindrücke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.