Donnerstag, 28. März 2024

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Ukraine
"Die Wähler wollen einen Reformkurs"

Die Ukrainer haben sich bei der Präsidentschaftswahl nicht bewusst für den neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj entschieden - sondern vor allem gegen Petro Poroschenko, sagte der CDU-Europapolitiker Michael Gahler im Dlf. Die Ukrainer hätten damit ihren Willen zu Reformen verdeutlicht.

Michael Gahler im Gespräch mit Sarah Zerback | 23.04.2019
Der Europaabgeordnete Michael Gahler (CDU).
Die Reformer in der Ukraine sollten nach der Meinung von Michael Gahler unterstützt werden (imago stock&people)
Sarah Zerback: Am Telefon begrüße ich jetzt Michael Gahler, der CDU-Politiker ist sicherheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, und er ist dort ständiger Berichterstatter für die Ukraine. Guten Morgen, Herr Gahler!
Michael Gahler: Guten Morgen, Frau Zerback!
Zerback: Können Sie sich denn schon einen Reim drauf machen, mit wem Bundesregierung und EU da künftig zusammenarbeiten müssen?
Gahler: Ja, wir arbeiten mit dem neuen Präsidenten zusammen und mit der noch im Amt befindlichen Regierung. Da hat sich für uns nichts geändert, und wir haben einen eindeutigen, umfassenden Reformkurs auch mit dem Land verabredet durch unser umfassendes Freihandels- und Assoziationsabkommen, das es umzusetzen gilt. Von daher wird sich von unserer Seite her da keine Veränderung ergeben.
"Die Zusammenarbeit wird unverändert mit dem neuen Präsidenten beginnen"
Zerback: Gut, der Wunschkandidat der Kanzlerin war es ja wohl nicht. Sonst hätte sie sich ja nicht noch vor der Stichwahl mit Poroschenko getroffen, und zwar nur mit ihm.
Gahler: Also das habe ich bei verschiedenen anderen Gelegenheiten auch gesehen, dass man zunächst mal den Amtierenden nicht desavouiert vor einer Wahl. Sie hat aber jetzt natürlich auch die Gratulation überbracht oder überbringen lassen, und von daher wird die Zusammenarbeit unverändert auch mit dem neuen Präsidenten beginnen.
Zerback: Okay, Kritik – das sei noch hinterhergeschoben – gab es natürlich daran schon aus der Opposition, Einmischung im Wahlkampf hieß es da, aber hat ja auch nix genützt. Es ist ja Selenskyj geworden, und Sie äußern sich da jetzt ziemlich positiv. Das klingt schon nach hohen Erwartungen an einen Kandidaten ohne politische Erfahrungen, ohne eigene Fraktion, ohne eigene Mehrheit im Parlament.
Gahler: Ja, in der Tat. Ich meine, es war ja auch in dieser Deutlichkeit nur zu verstehen als eine Abwahl von Poroschenko und nicht als etwas, dass man Selenskyj unterstützt. Die Wähler wollen einen unzweideutigen Reformkurs. Es ist also nicht mehr die Frage, vielleicht wie vor fünf Jahren, geht es Richtung Moskau oder Richtung Europa. Die Frage ist entschieden: eindeutig Richtung Europa, aber es ist die Frage, wie entwickelt sich das Land zu einem normalen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat. Und da sollten wir und haben auch bisher die wahren Reformer unterstützen und nicht nur die, die so tun.
Da ist vieles Richtiges in die Wege geleitet worden, auch bei der Justizreform zum Beispiel oder bei der Dezentralisierung, bei den Gemeindereformen in anderen Politikbereichen, aber teilweise, man hatte den Eindruck, mit gebremstem Schauen, mit Vorbehalt. Wir haben es erlebt in der Werchowna Rada, dem Parlament, bei der Gesetzgebung für den Antikorruptionsgerichtshof. Um nur ein Beispiel zu nennen, da sind 2.000 Änderungsanträge eingebracht worden. Wir haben das Spam-Gesetzgebung oder Spam-Legislation genannt, nur um zu verzögern, und da hat auch die Präsidialverwaltung aus unserer Sicht nicht immer die Rolle gespielt, die sie spielen sollte, nämlich dafür zu sorgen, dass Gesetzgebung konsequent umgesetzt wird und dann auch implementiert wird.
Zerback: Herr Gahler, jetzt haben Sie sich gerade sehr klar geäußert, also die Frage, ob Richtung EU oder Richtung Russland, die sei schon entschieden. Jetzt lässt aber doch eins aufhorchen: Selenskyj hat ja angekündigt, das Volk per Referendum über EU und NATO-Beitritt entscheiden zu lassen. Dabei stehen beide Ziele ja schon in der ukrainischen Verfassung. Wie bewerten Sie denn das?
Gahler: Ich denke, Sie haben es richtig gesagt, es ist bereits in der Verfassung verankert.
Zerback: Ist das nicht ein Rückschritt, wenn das jetzt noch mal abgefragt wird?
Gahler: Ich denke, das war auch ein Teil des Wahlkampfs, wo man alles im Grunde, was im Vorfeld gelaufen ist, noch mal auf den Prüfstand gestellt hat. Ich habe, jedenfalls was die Europäische Union betrifft, überhaupt keinen Zweifel, wie so ein Referendum ausgehen würde. In Sachen NATO muss man zur Kenntnis nehmen, in der Zeit vor der russischen Aggression hat es in dem Sinne nie eine Mehrheit gegeben für einen NATO-Beitritt, weil viele Ukrainer so im Gefühl hatten, wir wollen uns eigentlich es auch mit Russland nicht grundsätzlich verscherzen. Seit dem russischen Angriff, seit der Annexion der Krim und der Besetzung in der Ostukraine hat sich das auch gewandelt.
Der Punkt ist nur, die Frage stellt sich so in dieser Form natürlich für uns erst mal nicht. Das wäre eine innerukrainische einseitige Willenserklärung, wenn ich es juristisch beschreiben würde. Es ist auch, glaube ich, nicht der Hauptpunkt. Der entscheidende Punkt ist wirklich, für die Menschen ändert sich was, in meinem täglichen Leben, die Menschen haben sehr viel Entbehrungen auf sich genommen, da ist der Krieg im Osten, der kostet fünf Prozent des Bruttosozialproduktes. Da ist weiterhin ein schmerzhafter Reformkurs, der nur halbherzig umgesetzt worden ist. Die Frage, NATO oder EU, das ist aus meiner Sicht nachrangig oder allenfalls eine politische Frage, die man in den Raum stellt.
"Da liegt der Schlüssel in Moskau"
Zerback: Den Krieg mit Russland zu beenden, so hat es ja Selenskyj auch ausgedrückt, das ist ja eines seiner Prioritäten, die Minsker Gespräche wiederaufzunehmen. Trauen Sie ihm denn zu, was Poroschenko in den vergangenen fünf Jahren nicht geglückt ist?
Gahler: Da liegt der Schlüssel in Moskau. Das ist letztlich eine Abwägung, die in Russland von Putin getroffen wird, ob er weiterhin darauf setzt, die Ukraine in der Form zu destabilisieren, damit sie nicht Erfolg hat. Das ist ja die eigentliche innenpolitische Motivation von Putin, zu verhindern, dass ein Volk, was den Russen verwandt ist und historisch verbunden ist, erfolgreich einen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat aufbaut. Das ist seine große Angst. Die Aussage von Selenskyj, schaut euch an, ihr Bürger im postsowjetischen Raum, wenn die Bürger das wollen, ist alles möglich. Das ist schon eine Unterstützung für die Bürgerrechtsbewegung in Russland und damit auch eine Kampfansage an das System Putin.
Zerback: Und trotzdem war ja auch für den Kreml Selenskyj spätestens seit der Stichwahl Wunschkandidat. Teilen Sie da die Sorgen, dass er gerade einem Präsident Putin nicht gewachsen sein könnte?
Gahler: Die Sorge, die teile ich nicht. Die Ukraine weiß, dass sie politisch, wirtschaftlich von Seiten Europas und auch durchaus der USA Unterstützung hat. Wir überlassen das Land nicht der russischen Willkür in dem Zusammenhang. Ich denke, auch der neue Präsident setzt da fort, wo der alte aufgehört hat. Wir haben den Minsk-Prozess, der ins Stocken geraten ist. Ich kann nur an Russland appellieren, vielleicht als erste Schritte des guten Willens ihrerseits die 25 Matrosen freizulassen, die seit November im Asowschen Meer festgesetzt worden sind. Das ist alles völkerrechtswidrig und unmenschlich, und von daher bleibt es Russlands Sache zu entscheiden. Es ist auch im russischen Interesse, auf Entspannung zu setzen.
Zerback: Ja, gleichzeitig sind die Zeichen aber im Moment ganz andere. Es steht auch zum Beispiel eine Ankündigung aus dem Kreml im Raum, jetzt den Bewohnern, also nach der Stichwahl, den Bewohnern der russisch kontrollierten Ostukraine russische Pässe auszuhändigen. Droht da direkt also nicht die erste Herausforderung für Selenskyj?
Gahler: Das ist alles illegal und völkerrechtswidrig und wird auch von uns und von der Ukraine natürlich nie anerkannt werden. Das sind alles Schritte, die aus meiner Sicht auch nicht im langfristigen russischen Interesse sind. Russland kann diese illegalen Verhaltensweisen nicht auf Dauer fortsetzen. Irgendwann muss es zu völkerrechtsgemäßen Verhalten wieder zurückkehren. Wir nehmen das zur Kenntnis, wir sind, denke ich, sowohl der neue ukrainische Präsident, auch die Europäische Union, wir bleiben dialogbereit, aber auch sehr prinzipientreu, wenn es darum geht, das Völkerrecht aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.
"Der Dialogkanal bleibt offen von unserer Seite"
Zerback: Und doch höre ich gerade eine Zustandsbeschreibung raus, eine Analyse, eine Verurteilung wohl auch, aber wie Sie das konkret angehen wollen, habe ich jetzt noch nicht gehört.
Gahler: Ich sagte ja, der Dialogkanal bleibt offen von unserer Seite. Es finden regelmäßig ja auch Gespräche und Kontakte statt. Es ist die Entscheidung von Herrn Putin in Moskau, wie er sich glaubt in eine bessere Position zu bringen, wenn er den Status quo eher zum Negativen hin verändert mit den genannten Maßnahmen. Wir sind der Auffassung, dass sowohl eine völkerrechtsgemäße Verhaltensweise Russlands als auch eine Dialogbereitschaft unsererseits letztlich auch im Moskauer Interesse ist. Das sieht der Kreml offenbar noch nicht so.
Zerback: Genau. Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche, aber da wollte ich nämlich gerade einhaken, weil bis jetzt schweigt Putin ja. Wie werten Sie das?
Gahler: Dass er sich noch nicht im Klaren ist, was das Ergebnis bedeutet. Ich denke, er sollte sich im Klaren sein, denn ich sagte bereits zu Beginn, es ist nicht mehr die Frage, Moskauorientierung oder Europaorientierung. Ich glaube, da haben die Ukrainer mit deutlicher Mehrheit zum Ausdruck gebracht, was sie wollen. Insofern sollte er von diesem Momentum ausgehen und sich sagen, wir in Moskau haben ein Interesse an guten Beziehungen zu unserem westlichen Nachbarn. Dazu müssen wir die Schritte, die Russland eingeleitet hat im völkerrechtswidrigen Bereich, zurücknehmen, um auf diese Art zu einem normalen Verhältnis zu kommen. Das wird im russischen Interesse genauso sein wie es im ukrainischen und europäischen Interesse ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.