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Flugverbotszone in Libyen ist "unausweichlich"

"Es muss eingegriffen werden", mit UNO-Mandat, NATO-Beschluss oder nur als Vereinbarung mit der libyschen Opposition, denn Jürgen Chrobog hält die Situation in Libyen für "unerträglich".

03.03.2011
    Silvia Engels: Mitgehört hat Jürgen Chrobog, er ist Kenner der Nahost-Region und früherer Diplomat und Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Guten Morgen, Herr Chrobog!

    Jürgen Chrobog: Guten Morgen, Frau Engels!

    Engels: Die Vereinten Nationen sprechen über 150.000 Flüchtlinge mittlerweile. Muss sich die Europäische Union, muss sich die Staatengemeinschaft da schnell Hilfsmaßnahmen einfallen lassen?

    Chrobog: Ich halte es für eine der wichtigsten Entscheidungen, die in der Europäischen Union jetzt getroffen werden muss. Wir sehen ja die Bilder im Fernsehen, wir hören auch hier Berichterstattung über das, was sich an der Grenze zu Tunesien abspielt. Das ist unerträglich, und hier müssen wir Solidarität zeigen, hier können wir es auch tun, ohne jetzt über militärische große Interventionen nachzudenken. Das muss sofort geschehen, nur so können wir helfen.

    Engels: Was schwebt Ihnen da vor?

    Chrobog: Ja gut, wir haben ja Mechanismen, die funktionieren nicht, ich meine, die Hilfseinsätze sind immer geflogen worden, immer organsiert worden, die Europäische Union hat die Erfahrungen, und die müssen jetzt eingesetzt werden. Experten gibt es genug. Vor allem ist ja auch die Situation an der Grenze zu Tunesien, wenn man Tunesien sich ansieht und auch Ägypten, friedlich und relativ einfach zu verfahren, wenn man da irgendjemanden hinschickt, Hilfsorganisationen hinschickt – braucht ja nicht militärisch zu sein. Ich glaube, hier sind die Bedingungen relativ einfach, aber es müssen halt Geld und Mittel eingesetzt werden.

    Engels: Dann schauen wir neben dieser humanitären Hilfe allerdings auch auf den Zwang, der möglicherweise jetzt für die westlichen Staaten drängender wird, auch militärisch Gaddafi zu begegnen. Sie hatten ja selber vor dem Sturz von Präsident Mubarak in Ägypten eine klarere Unterstützung der Protestbewegung dort verlangt von den westlichen Staaten. Im Fall Libyen gibt es diese verbale Unterstützung, aber es nützt nichts. Muss die militärische Option da auf den Tisch?

    Chrobog: Die ist kompliziert, a) ist immer eine Einmischung des Westens kompliziert, weil es dann heißt, der Westen organisiert diesen ganzen Aufstand dort, das ist gefährlich. Die Amerikaner, das amerikanische Militär zögert ja auch sehr deutlich. Zweitens braucht es natürlich einer Unterstützung, einer klaren Aussage des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Wir brauchen eine Rechtsgrundlage nach Kapitel 7, und hier zögern, wie wir wissen, China und Russland. Es wird nicht leicht zu bewerkstelligen sein. Man sollte zumindest die Unterstützung der Arabischen Liga haben, die sich ja auch zögernd verhalten und im Übrigen selbst über eine Flugverbotszone nachdenken. Schlimmstenfalls sollte eben vielleicht auch die Forderung der Übergangsregierung in Bengasi ausreichen, die sich dort gebildet hat. Also es muss eingegriffen werden. Ich halte eine Flugverbotszone für unausweichlich, wir können nicht hinnehmen, dass Gaddafi, der Gaddafi-Clan jetzt Flüge durchorganisiert, also Flüge hinschickt oder Flugzeuge hinschickt, die die eigene Bevölkerung bombardiert.

    Engels: US-Verteidigungsminister Gates hat gestern allerdings deutlich gemacht, dass eine Flugverbotszone de facto doch auf einen Kriegseinsatz hinausläuft, denn dafür müsse man erst einmal die Flugabwehr Gaddafis bombardieren, um so eine Flugverbotszone überhaupt durchsetzen zu können. Kann man das riskieren?

    Chrobog: Damit hat er recht. Das Risiko kann ich nicht beurteilen, das müssen die Amerikaner letzten Endes beurteilen, aber trotz allem: Es gibt kaum eine andere Möglichkeit, und ich glaube, wenn man die allgemeine Unterstützung in der Region hat, so etwas zu tun, sollte es auch getan werden. In der Tat muss die Flugabwehr ausgeschaltet werden, das ist aber für die Amerikaner relativ leicht zu bewerkstelligen, sie haben ja Kriegsschiffe vor Ort. Ich glaube, das sollte letzten Endes doch jetzt die Alternative sein, die ins Auge gefasst werden muss.

    Engels: Bräuchte man dafür auch ein UNO-Mandat?

    Chrobog: Ja, ich sagte ja, natürlich braucht man ein UNO-Mandat. Ein Beschluss des Sicherheitsrates nach Kapitel 7 ist eigentlich die Rechtsgrundlage, die wir brauchen. Doch wenn wir sie nicht kriegen, muss man überlegen, wie weit man sonst vorgehen kann und wo eine Rechtsgrundlage ist, und ich sagte ja, ein Hilfsersuch auch der Menschen vor Ort, der Menschen in Bengasi, der sich dort bildenden Übergangs ... quasi Übergangsregierung ist alles schon eine sehr schwache Brücke, aber das könnte letzten Endes aus humanitären Gründen vielleicht auch als ausreichend angesehen werden, aber es ist ein schwieriger Pfad und eine Brücke, die man ungern geht, wie ich verstehe.

    Engels: Kritiker verweisen bei diesem Vorgehen auch auf negative Erfahrungen, beispielsweise in Somalia. Auch dort, wenn die beiden Länder Libyen und Somalia auch sonst wenig Vergleichbares haben, auch dort war ja das Staatswesen de facto zusammengebrochen, Kämpfe waren ausgebrochen. Dort konnte ein UNO-Einsatz nicht helfen, er gilt heute als Fiasko und Beleg für die Schwäche. Kann Libyen ein vergleichbarer Fall werden?

    Chrobog: Nein, Somalia war anders, das war ein Desaster für die Amerikaner, sie sind da mit Hubschraubern reingegangen, mit Bodentruppen reingegangen, und auch sehr theatralisch zu beginnen, und sind dort schrecklich gescheitert. Aber hier wäre es etwas anderes, hier würde ja die Luftwaffe eingesetzt werden, hier würden ja keine Soldaten ins Land geschickt werden, und im Übrigen ist hier auch die Mehrheit der Bevölkerung aufseiten der Amerikaner, aufseiten des Westens, wenn wir intervenieren sollten. Aber es ist immer prekär: Wenn der Westen reingeht in so ein Land, kann es wirklich sehr viele Probleme geben in der arabischen Region. Man sollte hier die Unterstützung zumindest der Arabischen Liga oder der Afrikanischen Union haben.

    Engels: Wäre es da wichtig, dass sich auch die arabischen Staaten selbst an kriegerischen Handlungen beteiligen?

    Chrobog: Ja, ich meine, wenn man hört – und Sie haben darüber ja auch berichtet –, dass die Arabische Liga nachdenkt über eine Flugverbotszone, das wäre ja ein erster Schritt in die Richtung. Und wenn man mit ihnen etwas zusammen machen könnte, wäre es natürlich der ideale Fall.

    Engels: Es wäre der ideale Fall. Die Briten haben angekündigt, sie seien vorbereitet für einen solchen Fall, eine Flugverbotszone durchzusetzen. Ist das ein Zeichen dafür, dass diese Vorbereitungen schon viel konkreter laufen, als man bisher hier in Informationen bis jetzt weiß?

    Chrobog: Also ich glaube schon, dass man auf alle Eventualitäten vorbereitet ist dort, aber die Entscheidung ist noch nicht gefallen und man muss die Äußerungen von Herrn Gates sehr ernst nehmen. Er sieht die Probleme, er verlangt ebenfalls eine Rechtsgrundlage, das ist fast neu bei den Amerikanern, dass sie eine Rechtsgrundlage oder einen Beschluss des Sicherheitsrates verlangen, früher haben sie auch andere Wege versucht zu gehen, aber es ist kompliziert. Aber ich glaube schon, dass wenn man vorgehen will, das dann auch sehr schnell tun könnte, und die Zeit drängt.

    Engels: Die Arabische Liga, sagten Sie, müsste mit ins Boot. Müsste es auch die Gemeinschaft der NATO sein, die sich da beteiligt, möglicherweise auch deutsche Aufklärungsflugzeuge zum Beispiel?

    Chrobog: Nein, ja, das wäre natürlich hilfreich, aber wenn wir einen Beschluss des Sicherheitsrates hätten zum Beispiel, dann müssten sich eben Länder finden, die dieses durchsetzen, dieses Flugverbot. Das wären die Amerikaner, die Briten und andere möglicherweise, es bedarf keines NATO-Beschlusses. Aber wenn wir den bekommen, würde das die Sache natürlich zusätzlich erleichtern, auch vor allen Dingen für Deutsche, sich in irgendeiner Form – ich kann jetzt nicht sagen, in welcher – zu beteiligen.

    Engels: Nun verweisen Kritiker auch darauf, dass natürlich bei dieser unübersichtlichen Lage die Gefahr von Kollateralschäden, also dass man möglicherweise unbeteiligte Zivilisten trifft bei irgendwelchen Angriffen auf Flugabwehrstellungen, relativ groß ist. Droht bei Libyen im Falle eines Eingreifens eine ähnliche Entwicklung, wie man sie im Irak oder Afghanistan gesehen hat?

    Chrobog: Natürlich kann es passieren, wenn man Flughäfen bombardiert, um die Luftwaffe dort auszuschalten in dem Land, aber wenn man eine Flugverbotszone durchsetzt, indem man die Flugzeuge abschießt oder daran hindert, aufzusteigen, dann sehe ich diese Kollateralschäden nicht in dieser Form. Aber was ist jetzt schlimmer – die Gefahr, dass so etwas eintritt, oder das Massaker, das möglicherweise passiert und sich richtet gegen die Libyer, vor allen Dingen in Ost-Libyen, wenn sie angegriffen werden sollten?

    Engels: Herr Chrobog, Sie haben lange diplomatische Erfahrung. Blicken wir einmal auf die EU. Denken Sie, dort wird sich eine Mehrheit dafür finden, die Amerikaner auf einem solchen möglichen Weg zu unterstützen?

    Chrobog: Da bin ich nicht sicher. Ich meine, ich glaube es eher nicht, dass wir einen Beschluss dort finden werden, aber es reicht ja, wenn es toleriert wird, wenn man das akzeptiert und nicht kritisiert. Man braucht die Europäische Union als Union nicht dafür. Wir sind jetzt, wenn wir einen Sicherheitsbeschluss bekommen oder wenn wir eine Rechtsgrundlage bekommen dafür, sind ja immer in der Lage, dies durchzuführen, das wäre entweder die NATO, es wären aber auch entweder nur die Amerikaner mit einigen, die sich da beteiligen wollen.

    Engels: Jürgen Chrobog, Kenner der Nahost-Region, früherer Diplomat und Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Wir sprachen mit ihm über die Möglichkeiten einer Flugverbotszone über Libyen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Chrobog!

    Chrobog: Ja!

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