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Folgen sozialer Ausgrenzung
Nicht jedes Mobbingopfer wird zum Amokläufer

Dass Mobbing bei Amokläufern eine entscheidende Rolle spielt, davon sind bisher vor allem amerikanische Untersuchungen ausgegangen. Eine Studie der Wissenschaftler der Freien Universität Berlin zeigt jedoch ein anderes Täterprofil und macht klar: Für Amokläufe gibt es noch viele andere Risikofaktoren.

Von Verena Kemna | 27.08.2014
    Jugendliche betrachten an einem Schultor einen Zettel mit dem Titel "Warum???"
    Fast alle jugendlichen Amokläufer hatten vor der Tat soziale Probleme und Konflikte oder haben in irgendeiner Form soziale Ausgrenzung erlebt. (picture-alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Ein Ergebnis der Studie vorweg: Bei vielen Täterprofilen spielen Konflikte von Schülern und Lehrern eine große Rolle. 35 Studien mit fast 130 Taten in den verschiedensten Ländern wurden analysiert, erklärt Herbert Scheitauer vom Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin. Er koordiniert den interdisziplinären Forschungsverbund zum Phänomen hochexpressiverer Gewalttaten.
    "Wir sind jetzt auch soweit, dass wir tatsächlich mit den angeforderten Fallakten und Fällen arbeiten können. Es war eine sehr lange Vorlaufzeit, um überhaupt erstmal zu den Fällen zu kommen, da wir es ausgesprochen wichtig finden, eben nicht nur mit Medienberichterstattung zu arbeiten, sondern mit wirklichen Fallakten, also Gerichtsakten, Prozessakten, wie auch immer. Dort finden sich viele Informationen bis hin zu psychologischen Gutachten, die einfach für eine wissenschaftliche Analyse geeigneter erscheinen."
    Nur die wenigsten Amokläufer sind gemobbt worden
    Fast alle der jugendlichen Amokläufer hatten vor der Tat soziale Probleme und Konflikte, fast alle haben in irgendeiner Form soziale Ausgrenzung erlebt. Doch nur die wenigsten, nämlich knapp 30 Prozent, sind vor der Tat von Gleichaltrigen gemobbt worden. Nur etwa jeder zehnte Täter hat sich selbst durch Mobbing hervorgetan. Dabei haben vor allem amerikanische Studien bisher angenommen, dass Mobbing bei Amokläufen eine entscheidende Rolle spielt.
    Die Wissenschaftler der Freien Universität Berlin belegen ein anderes Täterprofil. Nicht Mobbing, sondern die Zurückweisung durch Gleichaltrige spielt eine größere Rolle, als bisher angenommen. Mindestens jeder zweite Amokläufer ist davon betroffen. Doch wirklich überrascht war Vincenz Leuschner, Mitautor der Studie, dass fast jeder zweite Täter das Gefühl hatte, dass Lehrer und Mitschüler sie ungerecht behandeln würden.
    "Man muss, wenn man jetzt die Studie im Ganzen betrachtet, davon ausgehen, dass es nicht den einen erklärenden Risikofaktor gibt, das war im Grunde schon bekannt, aber dass man sich ein ganzes Bündel an verschiedenen Faktoren angucken muss."
    Fehlende Anerkennung oder enttäuschte Liebe
    Von dem Gefühl, in der Schule nicht anerkannt zu werden, bis hin zur enttäuschten Liebe, die unterschiedlichsten Erfahrungen können zu einem Amoklauf führen. Vincenz Leuschner hofft, dass die Studienergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zum Thema neue Impulse geben:
    "Manche Fälle, die sehr populär durch die Medien gehen, werden sehr intensiv und durch sehr viele Studien untersucht, manche Fälle werden überhaupt nicht angeschaut, obwohl es sich um das gleiche Phänomen handelt. Das ist natürlich auch ein großes Problem in unserer Wahrnehmung, was glauben wir, wie der typische Schoolshooter aussieht, er ist psychisch krank, er ist bullying Opfer. Das stimmt so überhaupt nicht, sondern man muss sehr viel differenzierter schauen."
    Schließlich wird nicht jedes Mobbing oder Bullying - Opfer zum Amokläufer. Es gibt keine klaren Muster, meint auch Mitautorin Friederike Sommer. Die Studie zeigt, dass voreilige Schuldzuweisungen nach einem schrecklichen Amoklauf wenig hilfreich sind. Die wissenschaftlichen Ergebnisse sollten auch für die Präventionsarbeit an Schulen genutzt werden.
    Lehrer sensibilisieren - Präventionsarbeit fördern
    "Also, dass man ohne Stigmatisierung versucht, die Schüler als Ganzes wahrzunehmen, also nicht nur störende Schüler wahrzunehmen, sondern auch zu schauen, wenn sich jemand sehr zurückzieht, immer weniger im Unterricht teilnimmt, obwohl er früher ein sehr aktiver Schüler war, dass man da als Lehrer sensibilisiert wird."
    Noch etwa eineinhalb Jahre lang haben die Wissenschaftler Zeit für ihre Grundlagenforschung, Zeit, um weitere nationale und internationale Gerichts- und Polizeiakten zu untersuchen. Am Ende der Tat- und Fallanalysen soll ein Modell stehen, dass bei der Präventionsarbeit hilft.