Freitag, 19. April 2024

Archiv


Folter und Moral in Argentinien

Martín Kohan, 1967 in Buenos Aires geboren, ist nicht nur Professor für Literaturtheorie an den Universitäten von Patagonien und Buenos Aires, sondern schreibt außerdem regelmäßig Literaturkritiken für die Tageszeitung "Clarin".

Von Margrit Klingler-Clavijo | 18.11.2009
    Abgesehen von "Zona Urbana", einem 2004 erschienen Essay über Walter Benjamin, sind seine übrigen literarischen Werke – sieben Romane, zwei Erzählungsbände sowie Essays über Evita Perón und den Nationalhelden San Martín – in Nord- und Südamerika angesiedelt.

    In seinem umfangreichen literarischen Werk stellt Martín Kohan die soziale und politische Geschichte Argentiniens auf den Prüfstand, einschließlich der nationalen Helden, Mythen und Legenden. Dass er dabei um die Militärdiktatur (1976-1982) nicht herumkommt, versteht sich von selbst. Allerdings geht es ihm da weniger um Widerstandskämpfer oder Zeitzeugen, vielmehr um das absurde Räderwerk der Macht, in das sich Mitläufer und Subalterne im Namen von Moral und Disziplin verstricken.

    Beispielsweise der unbedarfte Rekrut in dem 2002 erschienenen und nun ins Deutsche übersetzten Roman "Zweimal Juni" oder die junge Lehrerin Maria Teresa in dem 2007 veröffentlichten Roman "Ciencias Morales". Sie hat Anfang der 80er-Jahre an dem Gymnasium von Buenos Aires unterrichtet, an dem die künftige Elite der Nation ausgebildet wurde. Für "Ciencias Morales" wurde Martin Kohan 2007 mit dem spanischen Premio Herralde ausgezeichnet. Martín Kohan schreibt, wie er im Gespräch mit Margrit Klingler-Clavijo betonte, aus der Distanz der jüngeren Generation über einen äußerst traumatischen Abschnitt der argentinischen Geschichte, der immer noch lange
    Schatten wirft.

    "Ich glaube nicht, dass man, wenn man heute über die Militärdiktatur schreibt, nur das wiederholt oder das wieder aufgreift, was vor zehn Jahren geschrieben wurde. Ich habe den Eindruck, dass die Bücher, die jetzt über die Militärdiktatur geschrieben werden, Dinge aufgreifen, die bislang nicht angeschnitten wurden, und dass man aus anderen Perspektiven schreibt, als in den 80er-Jahren. Einfach, weil die vorherige Generation diese Dinge nicht aussprechen konnte, ohne ihre Generation auf den Prüfstand zu stellen, ohne Revision und Selbstkritik. Wir waren damals politisch noch nicht aktiv, müssen heute keine Rechenschaft ablegen und haben einen indirekteren Blick, was jedoch nicht heißt, dass er unbeteiligter und minder intensiv ist. Es geht einfach um eine Änderung des Blickwinkels und so gesehen ist 'Zweimal Juni' ein indirekter Roman."

    Das Benachrichtigungsheft lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Auf den zwei Seiten, die zu sehen waren, stand nur ein Satz. Er lautete: "Ab wie viel Jahren kann man ein Kind foltern?"

    So beginnt Martín Kohans Roman "Zweimal Juni". Wobei es den für dieses Heft zuständigen Rekruten nur stört, dass foltern darin mit zwei "l" geschrieben wird. Der Rekrut arbeitet als Chauffeur für Doktor Mesiano, der ein geheimes, als Schule getarntes Folterzentrum leitet, immerzu über Verantwortung und Moral schwafelt, ohne sich selbst im Geringsten an die viel beschworenen Maßstäbe zu halten. Im Juni 1978 interessiert sich der joviale Doktor nur noch für Fußball, aus gutem Grund, wird doch die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien ausgetragen, und das nationale Fußballfieber ist ansteckend.

    Außerdem versuchen die Militärs, die sich 1976 an die Macht geputscht haben, darüber ihr lädiertes Image aufzupolieren und vom politisch motiviertem Mord, von Folter und dem "Verschwinden" ihrer Gegner abzulenken. "Zweimal Juni" heißt der Roman, weil der erste Teil im Vor- und Umfeld des entscheidenden Spiels angesiedelt ist, das Argentinien im Juni 1978 verliert, allerdings nur im Roman. Der zweite, wesentlich kürzere Teil bezieht sich auf die darauf folgende Fußballweltmeisterschaft, die 1982 in Spanien ausgetragen wurde, wiederum im Juni.

    "Ehrlich gesagt habe ich nicht die Diktatur an sich thematisiert, hatte es auch nie vor, weder in 'Zweimal Juni' noch in 'Ciencias Morales'. Das sind die beiden Romane, die direkt und unmittelbar darauf Bezug nehmen. Die wollte ich nicht als Romane über die Diktatur konzipieren. Das hätte mich zu einer Art von politischer Literatur geführt, die mich nicht sonderlich interessiert. Ich interessierte mich weitaus mehr für die Gleichgültigkeit und die Disziplinarmaßnahmen, die Paranoia des Überwachungspersonals, die Paranoia der Kontrollsysteme. Wenn ich beim Schreiben an den Punkt komme, wo ich die Handlung, den Schauplatz festlegen muss, fällt mir oft die Diktatur ein, weil es da in einem fort Bedeutungslinien gibt, die mich zum Schreiben anregen, obwohl die Diktatur für mich keine Realität ist, über die ich in einem dokumentarischen Sinn schreiben würde. Das hängt mit meinem Literaturverständnis zusammen."

    Cool und präzis inszeniert Martín Kohan das Räderwerk der Macht, wobei er mit drei verschiedenen Erzählsträngen operiert, die er mit Geschick und Kalkül miteinander verschränkt. Erstens, das Fußballfieber der Argentinier in Erwartung des Sieges und die herbe Enttäuschung angesichts der unerwarteten Niederlage.

    Zweitens die rigide Alltagsroutine der Militärs, aus der Sicht des Rekruten geschildert, der auf keinen Fall anecken oder auffallen möchte.

    Drittens eine hochschwangere Guerillera, die in dem als Schule getarnten Folterzentrum in Haft sitzt, dessen Leiter Doktor Mesiano ist. Während der dem Fußballsieg entgegen fiebert, seinen Frust über die Niederlage mit dem Rekruten und dem Sohn im Bordell kompensiert, bringt die Guerillera ihr Kind zur Welt. Kurz nach der Geburt wird es ihr weggenommen, wie damals bei Regimegegnerinnen üblich. Die Mütter von der Plaza de Mayo haben diese Praktiken zuerst denunziert. Der Dichter Juan Gelman hat über zwanzig Jahre nach seiner auf diese Weise verschwundenen Enkelin gesucht und in Elsa Osorios viel beachtetem Roman "Mein Name ist Luz" geht es auch darum.

    Martín Kohan beschreibt nie direkt das ausschlaggebende Fußballspiel oder die tödlichen Folterpraktiken, sondern verknüpft die Erzählstränge so gekonnt miteinander, dass man hinter Doktor Mesianos Geschwafel über Pflicht und Moral, hinter all den derben Floskeln, markigen Sprüchen und Zoten der Militärs das Wesen des grausigen Terrorregimes erfasst. Martín Kohan ist ein Meister der Andeutungen und Anspielungen, des Ungesagten, das zwischen den Zeilen aufblitzt. So beschreibt er die lebensgefährlichen Misshandlungen der Guerillera nur indirekt, indem er wie bei einer Gebrauchsanweisung die Funktionsweisen von Waagen erklärt, von der Schwergewichtswaage bis zur feinen Juwelierwaage, jedoch diese Beschreibungen mit Überlegungen über Schmerzgrenzen durchsetzt. Die stellt der ratlose Doktor Mesiano mit einem seiner Kollegen an, als er bezweifelt, ob die malträtierte Guerillera überhaupt noch eine Überlebenschance hat.

    "Meines Erachtens funktioniert Literatur besser, wenn sie Bedeutungen erschließt, wenn sie Gewissheiten ins Wanken bringt, wenn sie sich nicht darauf beschränkt, die sichtbare oder bekannte Realität abzubilden und zu bestätigen, vielmehr Quer- oder Seiteneinstiege, ungewöhnliche Perspektiven benutzt, wenn sie in dieser Realität und in diesen Ereignissen Sinngebungen und Bedeutungen findet, die die Realität gar nicht anstrebt und die nur in der Literatur vorkommen."
    Im zweiten Teil des Romans wird die perfekte Familienidylle inszeniert: Grillparty in Doktor Mesianos Garten. Anlass: Die Live–Übertragung im Radio des für Argentinien entscheidenden Spiels bei der Fußballweltmeisterschaft 1982. Doktor Mesianos ehemaliger Chauffeur, der Rekrut, der mittlerweile Medizin studiert, ist zufällig mit von der Partie. Nachdem er in der Zeitung gelesen hatte, dass Doktor Mesianos Sohn im Falklandkrieg gefallen war, hat er sich spontan zu einem Besuch bei seinem ehemaligen Vorgesetzten entschlossen. Völlig ahnungslos platzt er in die Familienidylle, wobei anscheinend nur ihm im Verlauf des Abends deren Verlogenheit bewusst wird, nachdem er sich den kleinen Sohn von Mesianos Schwester genauer angeschaut hat. Ähnelt der etwa nicht dem Neugeborenen, das man im Juni 1978 der gefolterten Guerillera weggenommen hatte?

    In Argentinien erfolgte die gesellschaftliche Aufarbeitung der Militärdiktatur weder gradlinig noch unangefochten, eher im Zickzackkurs: Die Betroffenen, die die Aufklärung der Gräuel und die Bestrafung der Täter forderten, worauf die jeweiligen Machthaber ganz unterschiedlich reagierten.

    "Nach den 80er-Jahren, in denen es wichtige Verurteilungen der Militärs gab, hat die Regierung Menem mit den Straferlassen und der völligen Straflosigkeit ein Höchstmaß an sozialer Würdelosigkeit bewiesen. Allerdings wurden diese Urteile in den letzten Jahren revidiert, und man kommt wieder auf dieses Thema zurück, jedoch nicht am gleichen Ausgangspunkt. Die Straflosigkeit gegenüber der Diktatur so wie sie in den 90er-Jahren gang und gäbe war, ist passé und das ist bemerkenswert."

    Martin Kohan: "Zweimal Juni". Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.
    Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, 19,80 Euro