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Forschungen zur Alterskriminalität
Wenn alte Menschen straffällig werden

Das Bild straffälliger Älterer ist uneinheitlich und voller Klischees. Aktuelle Forschung blickt deshalb nun genauer hin - denn nicht nur Gefängnisse müssen sich alleine aufgrund des demografischen Wandels stärker auf eine ältere Klientel einstellen.

Von Barbara Weber | 25.02.2016
    Gefängniszelle der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim
    Gefängniszelle der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim (imago / HRSchulz)
    "Ich hatte eigene Firmen in Essen, und zwar eine Versicherungsmaklergesellschaft und eine Immobilienfirma oder mehrere, und ich habe also in Essen, ich denke mal so, 3.000 Eigentumswohnungen verkauft bei einem Umsatz von 500 Millionen. Wir haben für circa 90 Millionen Provisionen ausgezahlt", erzählt der 68-jährige Häftling. Es kam zu Differenzen mit dem Finanzamt
    "Also man hatte den Verdacht, ich hätte im großen Stil Steuern hinterzogen. Und wir hätten in drei bis vier Fällen dann auch bei der Finanzierung die Bank getäuscht. Und ein Jahr lang stand ich vor Gericht in Essen. Und dann bin ich eben verurteilt worden zu viereinhalb Jahren. Und wo dann das Urteil ausgesprochen wurde, da war ich erst mal sprachlos."
    Ein Einzelfall? Was die Höhe der hinterzogenen Steuern anbelangt, sicher nicht die Regel. Aber in vielen anderen Punkten ist er vielleicht typisch:
    Ältere Straftäter sind, nicht viel anders als Junge, überwiegend Männer.
    Sie kommen meistens aus der Mitte der Gesellschaft, so das Ergebnis einer Studie, durchgeführt am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. Und noch ein Vorurteil widerlegt die Untersuchung: Alterskriminalität ist in der Regel kein Armutsdelikt.
    "Wir finden da keine Belege," sagt Dr. Franziska Kunz, Soziologin und Autorin der Untersuchung. "Interessanterweise zeigt sich sogar das Gegenteil, nämlich die Mehrzahl der älteren Delinquenten ordnet sich selber der Mittel- beziehungsweise Oberschicht zu. Wir haben hier eine ganz andere Klientel, also die älteren Delinquenten sind eher sozial gut integrierte, ökonomisch und finanziell abgesicherte Personen."
    Wie häufig werden ältere Menschen kriminell?
    Doch wie häufig werden ältere Menschen kriminell? Welche Delikte stehen im Vordergrund? Was wissen die Forscher über die Motive?
    "Generell kann man sagen, dass - wie auch schon früher - die Kriminalität der jüngeren Erwachsenen, der 30- bis 60-Jährigen insgesamt, etwa vier Mal so hoch ist wie die der Alten. Oder anders gesagt: Je älter man wird, umso braver wird man."
    Resümiert Dr. Christian Pfeiffer, ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Auskunft über Kriminalitätsdaten gibt in dem Fall die Polizeiliche Kriminalstatistik, kurz PKS. Die sagt für 2012 - so die Soziologen Dr. Michael Hanslmaier und Dr. Dirk Baier in dem kürzlich im Springer Verlag erschienen Buch "Straffälligkeit älter Menschen" -, dass "bundesweit mehr Personen im Alter von 60 und mehr Jahren in der PKS als Tatverdächtige registriert (waren) als jemals zuvor". Das heißt konkret: Standen 1995 noch 650 Senioren pro 100.000 Einwohner unter Tatverdacht, sind es 2012 fast 700.
    Allerdings ist auch der Anteil der Senioren durch den demografischen Wandel gestiegen. Betrachtet man nur die Altersgruppe, ergibt sich ein etwas anderes Bild, meint Christian Pfeiffer.
    "Konkret auf die letzten zehn Jahre hat die Kriminalität der ab 60-Jährigen um drei Prozent abgenommen."
    Was die begangenen Delikte anbelangt, zeigt sich eine unterschiedliche Entwicklung:
    "Die Diebstahlsdelikte, die haben bei den alten Menschen um fast die Hälfte abgenommen pro Hunderttausend ihrer Altersgruppe. Die Betrugsdelikte sind zwar bei den Älteren etwas angewachsen", schränkt der Wissenschaftler ein, doch insgesamt lasse sich feststellen, "dass sich die finanzielle Gesamtlage der älteren Menschen nicht dramatisch verschlechtert haben kann, sonst würde sich das niederschlagen in einem deutlichen Anstieg der Straftaten wie Ladendiebstahl, Schwarzfahren oder auch Betrug in sehr viel höherem Maße als wir das jetzt beobachten konnten."
    Polizeiliche Kriminalstatistik als eine Quelle
    Die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt auch Auskunft darüber, welche Delikte begangen wurden: Michael Hanslmaier und Dirk Baier benennen als Erstes den Diebstahl, gefolgt von Beleidigungen, Betrugsdelikten und vorsätzliche leichte Körperverletzung. Vergleicht man Seniorenstraftaten mit denen anderer Täter, so fällt auf, dass Ältere bei Straftaten gegen die Umwelt, fahrlässiger Körperverletzung sowie der Brandstiftung überrepräsentiert sind. Wie lässt sich das erklären?
    Die Autoren vermuten, dass hinter fahrlässiger Körperverletzung Verkehrsdelikte stehen könnten. Brandstiftung und Umweltdelikte könnten ihre Ursache darin haben, dass Ältere häufig in Häusern mit Gärten wohnen und dort Laub oder Ähnliches verbrennen. Damit verschmutzen sie einerseits die Luft und fackeln andererseits womöglich Nachbars Gartenhäuschen ab.
    Doch über die Aussagekraft solcher PKS-Statistiken lässt sich streiten, denn im Wesentlichen handelt es sich um einen Tätigkeitsbericht der Polizei. Und die nimmt meistens ihre Ermittlungen dann auf, wenn Anzeige erstattet wird, meint Dr. Franziska Kunz, inzwischen vom MPI zum Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden gewechselt. Ihr Resümee: "Wo Polizei, da Kontrolle, da Kriminalität." Das ist ein Grund, warum die Soziologin bei ihrer Untersuchung einen anderen Ansatz gewählt hat:
    "Es ist eine postalische Befragung gewesen im Regierungsbezirk Freiburg, das heißt, es sind 302 Gemeinden gewesen, die wir einbezogen haben."
    Per Zufallsstichprobe bestimmten die Wissenschaftler etwa 3500 Personen im Alter zwischen 49 bis 81 Jahren, die sie anschrieben.
    "Und letztendlich hatten wir dann 2000 verwertbare voll ausgefüllte Fragebögen."
    Der Vorteil dieser Untersuchung: Nicht das, was die Polizei ermittelt, sondern die anonymisierten Angaben der Befragten fließen in die Studie ein. Aber auch diese Methode kann das Ergebnis verzerren, zum Beispiel, wenn die Befragten nicht die Wahrheit sagen:
    "Wir haben 14 Delikte gefragt, da wiederum Bagatell- und Massenkriminalität: Steuerbetrug, Versicherungsbetrug, Ladendiebstahl, so verschiedene Dinge. Aber auch Körperverletzung, Konsum von Drogen, Bedrohung, Erpressung."
    Das Ergebnis: "Was man erst mal grundsätzlich sagen kann, die Gesamtprävalenzrate, also wie hoch ist der Anteil derjenigen, die mindestens eins dieser Delikte mindestens einmal begangen haben, da lässt sich feststellen, über die Lebensspanne geben das 70 Prozent der Befragten an. In Hinblick auf die Zeit seit dem 50. Geburtstag die Hälfte der Probanden noch und noch ein Viertel innerhalb eines Jahres. Also konkret: Ein Viertel der alten oder älteren Befragten sagen, dass sie mindestens eins der Delikte einmal im vergangenen Jahr begangen haben."
    Abweichungen zur Kriminalstatistik
    Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass die offizielle Statistik die Gesamtkriminalität deutlich unterschätzt. Auch bei den benannten Delikten gibt es Abweichungen. Die Resultate für den Ein-Jahres-Zeitraum zeigen:
    "Trunkenheit am Steuer wird von den meisten Leuten als mindestens einmal pro Jahr angegeben, nämlich von zwölf Prozent der Befragten. Steuerbetrug ist das nächst verbreitete Delikt mit zehn Prozent der Befragten, die sagen, das mindestens einmal gemacht zu haben. Und dann kommt Schwarzfahren, Diebstahl am Arbeitsplatz mit jeweils fünf Prozent. Und hier sehen Sie schon, gehen die Raten in den Keller, was danach kommt ist so im einstelligen beziehungsweise Nachkommastellen-Bereich."
    Warum ältere Menschen kriminell werden, darüber gibt es nur Vermutungen. Michael Hanslmaier und Dirk Baier unterstellen, dass Altersdelikte häufig Delikte der Schwäche sind, also leichte Körperverletzung zum Beispiel durch verursachte Verkehrsunfälle.
    Franziska Kunz findet bei einer Anschlussstudie ihrer Befragung keinen Erklärungsansatz, der von dem jüngerer Täter abweicht. Die Motive sind die gleichen. Altersspezifische Ursachen gaben die Befragten nicht an. Typisch für die Motivlage ist zum Beispiel:
    "Ein sozialer Lernmechanismus, so wird das in der Literatur auch bezeichnet, das heißt, Personen, die welche kennen, die delinquent waren und nicht erwischt wurden, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, delinquent zu werden. Das ist sozusagen ermutigend, das auch zu machen. Dann: der subjektiv eingeschätzte Nutzen von Kriminalität. Wenn der höher eingeschätzt wird, ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, Kriminalität zu begehen. Einstellungen des persönlichen Umfelds zur Kriminalität sind entscheidend. Das Geschlecht spielt eine große Rolle, Männer oder Frauen, und inwiefern man soziale Normen internalisiert hat, wie stark und wie rigoros."
    Soziale Normen verändern sich. Das hat schon eine ältere Studie, durchgeführt 2000 am Max-Planck Institut in München, gezeigt. Zum Beispiel werden Geschlechter- und Familiennormen inzwischen anders beurteilt als noch vor Jahrzehnten.
    "Und dieses Abwägen, dieses individuelle, diese Kontextsensitivität von sozialen Normen, das ist neu."
    Kontextsensitivität, also das eigene Verhalten den jeweiligen Umständen entsprechend anzupassen, konnte Franziska Kunz auch bei ihrer Anschlussbefragung am MPI in Freiburg feststellen. Eigentlich bewerten Wissenschaftler Kontextsensitivität positiv, aber:
    "Es ist auch ein Einfallstor für kognitive Rechtfertigungsstrategien oder Neutralisierung, wie man es in der kriminologischen Theorie nennt, das heißt, die Leute finden für sich und vor anderen Erklärungen, wann unter bestimmten Umständen das Übertreten der sozialen Normen und Gesetze gerechtfertigt ist."
    Demografischer Wandel zwingt Strafanstalten zum Handeln
    Franziska Kunz und Hermann-Josef Gertz bündeln erstmalig in ihrem Buch "Straffälligkeit älterer Menschen" Studien verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, die sich mit Alterskriminalität befassen, darunter auch das Thema Strafvollzug.
    Auch wenn man darüber spekuliert, ob Straffälligkeit im Alter zunimmt oder abnimmt, müssen die Strafanstalten sich schon jetzt aufgrund des demografischen Wandels auf mehr Gefangene in höherem Lebensalter einstellen.
    Wie gut die Bundesländer auf die wachsende Klientel vorbereitet sind, wollte Professor Klaus Laubenthal wissen. Er ist Vorstand des Instituts für Strafrecht und Kriminologie der Universität Würzburg und Richter am Oberlandesgericht Bamberg.
    "Es ging uns darum, in Erfahrung zu bringen, inwieweit ist für die schon virulent das Thema Altenstrafvollzug, der Umgang in den Justizvollzugseinrichtungen mit alten Menschen. Wie gestaltet man Einrichtungen? Wo bringt man lebensältere Inhaftierte unter. Und es war zum Teil auch erstaunlich für uns, dass in relativ kurzer Zeit unser Fragebogen von sämtlichen Bundesländern beantwortet wurde. Das zeigt, dieses Thema ist in den Vollzugsverwaltungen ein aktuelles Thema für Zukunftsperspektiven."
    Das Ergebnis seiner Befragung verwundert erst mal nicht: "Die Ausgestaltung ist unterschiedlich. Es gibt Bundesländer, die eigene Einrichtungen für Senioreninhaftierte haben, eine Abteilung, eine Station. Es gibt Bundesländer wie beispielsweise Bayern, da haben wir sogenannten Mischvollzug, also lebensältere Inhaftierte sind verteilt in die Anstalten wie andere Inhaftierte auch. Allerdings ist man bemüht, und das machen auch diese Bundesländer, die so einen Mischvollzug haben in altersmäßiger Hinsicht, natürlich Erfordernissen älterer Gefangener gerecht zu werden."
    Eine klare Tendenz in die eine oder andere Richtung gibt es nicht. Aber es gibt Argumente, die für oder gegen eine gemeinsame Unterbringung mit jüngeren Strafgefangenen sprechen.
    "Für eine Mischform spricht vor allem die Vermeidung einer gewissen Gettoisierung lebensälterer Inhaftierter. Man spricht sich auch mit dem Argument dagegen aus, indem man Erkenntnisse aus Altenheimen vergleicht, wo man doch zu dem Ergebnis kommt, dass hier das ständige Zusammensein mit Lebensälteren oder Gleichlebensälteren zu einer gewissen geistigen Verflachung bei den Betroffenen führen kann."
    Verschiedene Konzepte in den Bundesländern
    Im Hinblick auf die Resozialisierung und um einer Vereinsamung nach der Entlassung aus der Haft vorzubeugen, sollten Ältere ihre Außenweltkontakte pflegen können. Sind sie heimatfern an zentralen Orten untergebracht, erhalten sie seltener Besuch von Angehörigen und Freunden. Allerdings hat die getrennte Unterbringung von Jung und Alt auch Vorteile unter dem Aspekt der Subkulturen in Gefängnissen:
    "Subkulturen haben beispielsweise eine eigene Hackordnung, eine eigene Statushierarchie der Gefangenen untereinander. Und ein ganz zentrales Kriterium, seinen Platz in dieser Hierarchie zu finden, ist Gewaltbereitschaft. Und ist dann auch das unter Beweis stellen der Gewaltbereitschaft, also Gewalt auszuüben. Und hier, um dies Demonstrieren zu können, sucht man sich keinen stärkeren Mitgefangenen, sondern stets natürlich schwächere Mitgefangene, wo durchaus die Gefahr besteht, dass Ältere dann in die Opferrolle gebracht werden. Und hiervor können sie natürlich in geschlossenen Seniorenabteilungen eher geschützt werden"
    Welche Art der Haft Ältere in Hinblick auf die Resozialisierung den meisten Nutzen bringt, ist noch völlig offen und kann sich erst mit wachsender Erfahrung in dem Bereich zeigen. Vielleicht auch ein Grund, warum alle Bundesländer so großes Interesse an der Studie zeigten. Alterskriminalität als Thema wissenschaftlicher Studien ist neu. Die bislang gewonnenen Ergebnisse zeigen ein etwas anderes Bild, als Schlagzeilen in den Medien suggerieren. Franziska Kunz:
    "Ich würde es einfach mal so zusammenfassen: Weder eine Bagatellisierung von Kriminalisierung älterer Menschen ist angebracht, noch Dramatisierung, sondern eine nüchterne, weitere wissenschaftliche Beobachtung. Und das wäre ja etwas, was es bisher nicht gab. Insofern würde ich dafür plädieren, dass man das Installieren sollte, dass die Gesellschaft das akzeptiert und mitträgt und nicht mit Vorwürfen konfrontiert. Mir ist das im Verlauf der Arbeit häufig passiert, dass es hieß, ich kriminalisiere die Alten, wenn ich den Blick auf die lenke."