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Forschungsgruppe
Der Einfluss der Gene auf die Lebenschancen

Über die Frage, ob die Gene oder die Umwelteinflüsse unsere Fähigkeiten und unsere Persönlichkeit am meisten beeinflusst, wird seit Jahrzehnten gestritten. Eine interdisziplinäre Forschergruppe der Uni Bielefeld untersucht in groß angelegten Studien, wie stark genetische Ursachen eine Rolle für die eigene Position in der Gesellschaft spielen.

Von Ingeborg Breuer | 28.07.2016
    DNA-Strang
    DNA-Strang: Wie stark sind die Gene für den eigenen gesellschaftlichen Erfolg verantwortlich? (imago/stock&people/Science Photo Library)
    "Die Soziologie ist ja entstanden als die Wissenschaft, die darauf hinweist, wie prägend soziale Strukturen sind. Nun kann man sagen, wenn es auch noch biologische Ursachen gibt, dann sollen das die Biologen untersuchen, aber es ist nicht unser Geschäft."
    Wenn die Soziologie sich mit sozialen Ungleichheiten beschäftigt, dann versteht sie diese gewöhnlich als gesellschaftliches Problem. Sie blickt zum Beispiel darauf, wie materielle und immaterielle Ressourcen verteilt sind und welche Chancen sich daraus für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft ergeben.
    Doch was, wenn die Chancen, die jemand in einer Gesellschaft hat, nicht nur durch seine Umwelt, sondern auch genetisch vermittelt sind? Wenn der Mensch nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt kommt und dann von seinen Lebensumständen geformt wird, sondern wenn sein Erbgut bereits sein Verhalten, seine Erfolge und Misserfolge, seine Lebenschancen beeinflusst? Dann, so Professor Martin Diewald, Soziologe an der Uni Bielefeld, müsse die Soziologie sich dieser Tatsache stellen:
    "Wir haben Beispiele, dass soziale Einflüsse nicht uniform auf Menschen einwirken, sondern dass das durchaus davon abhängig ist, welche genetische Ausstattung wir mitbringen. Damit ist die Soziologie aufgerufen, sich dieses Feld neu zu erschließen."
    Die traditionelle Nichtberücksichtigung von genetischen Ursachen für menschliche Verschiedenheit und Ungleichheit führte in der Soziologie, so Martin Diewald, zu erheblichen Erklärungsdefiziten. Denn Herkunftseinflüsse lassen sich eben nicht als bloß gesellschaftliche Bedingungen beschreiben. Sondern die genetische Ausstattung beeinflusst Gesundheit und Lebenserwartung ebenso wie Bildungserfolg, Berufsaussichten, ja den gesamten Lebensverlauf einer Person.
    "Es gibt eine Vielzahl von Studien zu diesem Thema."
    Professor Rainer Riemann, Psychologe an der Uni Bielefeld:
    "Die zeigen, dass sowohl genetische als auch Umweltbedingungen bedeutsam sind für die individuelle Entwicklung aber auch für deren sozialen Status in der Gesellschaft, für Gesundheit, Bildung."
    "Genetische und soziale Ursachen von Lebenschancen" untersucht eine internationale multidisziplinäre Projektgruppe am Bielefelder Zentrum für Interdisziplinäre Forschung. Psychologen, Biologen, Mediziner, Soziologen und Philosophen erforschen, wie das Zusammenspiel genetischer und umweltbedingter Einflüsse auf Lebenschancen angemessen verstanden werden kann.
    Martin Diewald und Rainer Riemann leiten diese Forschungsgruppe. Und begleitend dazu haben die beiden im Jahr 2014 noch ein weiteres Forschungsprojekt mit dem Namen "TwinLife" - also "Zwillingsleben" – begonnen. In diesem Projekt befragen sie mehr als 4.000 ein- und zweieiige Zwillingspaare über zwölf Jahre und ihre Familien.
    "Das sind dann eben Zwillinge. Und wir untersuchen auch die Zwillingsfamilien, die leiblichen Eltern wie Stiefeltern, das altersmäßig nächstliegende Geschwister und bei den ältesten, Partnerinnen und Partner, sofern vorhanden. 1.000 pro Geburtsjahrgang, die jüngsten 5, 11, 17, 23."
    Zwillingsstudien als Indikator
    Zwillingsstudien wie auch Forschungen über die Entwicklung von adoptierten und leiblichen Kindern innerhalb einer Familie waren immer schon wichtig, um zu untersuchen, welchen Anteil die genetische Disposition und welchen die soziale Umwelt auf die Persönlichkeitsentwicklung hat. Denn dabei stieß man auf Unterschiede, die sich durch das soziale Umfeld allein nicht erklären ließen.
    "Die Grundherangehensweise ist, dass man sich biologische und auch soziale Verwandtschaftsverhältnisse zunutze macht."
    Professor Lars Penke, Psychologe an der Uni Göttingen, über die Ergebnisse früherer Studien:
    "Dass ein Kind, das in einer Familie aufwächst und mit den Eltern biologisch verwandt ist, den Eltern ähnlicher ist als ein Kind, was in der Familie aufwächst und nicht mit den Eltern verwandt ist, also ein Adoptivkind. Und wenn man eineiige Zwillinge nimmt und mit zweieiigen vergleicht, dann findet man immer, dass man sehr viel höhere Ähnlichkeit bei den genetisch eineiigen Zwillingen hat als bei den zweieiigen, obwohl die in der gleichen Familie aufwachsen, gleich alt sind."
    Lars Penke arbeitet in der Bielefelder Projektgruppe über "Genetische und soziale Ursachen von Lebenschancen" mit. Einer seiner Forschungsschwerpunkte gilt der Intelligenz, deren Erblichkeit mittlerweile unter Wissenschaftlern außer Frage steht:
    "Es ist mittlerweile sehr gut belegt, dass alle interindividuellen Unterschiede des Menschen einschließlich aller psychologischen Unterschiede eine erbliche Komponente haben, das heißt, unsere Genetik spielt eine Rolle. Das heißt, es gibt auch bei der Intelligenz, bei der Kreativität, bei der Persönlichkeit eine gewisse erbliche Komponente."
    Übrigens eine erbliche Komponente, die sich auch mit zunehmendem Alter nicht auswächst, weil sie von mehr oder minder zufälligen Umwelteinflüssen wie Bildung oder sozialem Status überlagert würde. Denn so zufällig sind solche Einflüsse nicht, weil Menschen sich ihre Umwelt ja aussuchen. Und welche Wahl sie dabei treffen, hängt wiederum von ihren erblichen Potenzialen und Vorlieben ab.
    "Die Intelligenz entwickelt sich über die Lebensspanne hinweg, trotzdem finden wir bei erwachsenen Menschen eine Erblichkeit von circa 80 Prozent. Und das heißt, dass 80 Prozent der Unterschiede, die wir zwischen Menschen finden, auf genetische Unterschiede zurückzuführen sind."
    Untersuchung von Intelligenz
    Zweifelsohne hat Intelligenz, verstanden als die kognitive Fähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, schnell zu denken, zu schlussfolgern und zu lernen, einen großen Einfluss auf Bildungserfolg, Berufswahl und auch die Lebenschancen von Menschen.
    "Wir wissen sehr genau, dass man über Intelligenz Bildungserfolg vorhersehen kann, auch so was wie Noten und Bildungsergebnisse. Das Ganze hat dann auch noch einen gewissen Effekt auf Berufswahl, Berufsstatus. Und das Ganze beeinflusst dann auch den sozioökonomischen Status."
    Doch mehr noch: Die Intelligenz einer Person ist nicht nur ein Indikator für deren schulischen und beruflichen Erfolg, so Lars Penke, sondern es zeigt sich auch ein Zusammenhang zwischen Intelligenz und dem Gesundheitszustand eines Menschen:
    "Menschen die intelligenter sind, enden letztendlich als gesündere Menschen. Das kann verschiedene Ursachen haben, das hat auch etwas mit dem Status zu tun durch besseren Zugang zum Gesundheitssystem. Aber es hat mit Sicherheit auch etwas damit zu tun, dass intelligentere Menschen besser in der Lage sind, sich über Gesundheit zu informieren, besser wissen, wann müssen sie zum Arzt gehen, was ein gesunder Lebenswandel ist."
    Zudem, auch das ergaben die Untersuchungen von Lars Penke, gibt es eine enge Korrelation von Intelligenz und sozialer Schicht:
    "Weil die, die besser sind in der Schule, machen wahrscheinlich auch einen höheren Schulabschluss, gehen wahrscheinlich eher auf die Universität und kriegen auch die besseren Noten. Und das sind alles Faktoren, die einen in eine Bahn bringen, um einen höheren sozioökonomischen Status zu erreichen, so denn sozioökonomischer Status das Ergebnis von eigener Leistung ist."
    Die Gene bestimmen also die sozialen Bedingungen, unter denen eine Person lebt. Doch auch umgekehrt kann das soziale Umfeld die genetischen Dispositionen eines Kindes beeinflussen, es kann sowohl verstärkend als auch behindernd einwirken.
    Positiv wirkt die Umwelt etwa, so Martin Diewald in einem Aufsatz, wenn Kinder intelligent sind, weil sie intelligente Eltern haben und entsprechend in einer intellektuell stimulierenden Umwelt aufwachsen, die diese Intelligenz weiter fördert. Und fatalerweise gilt natürlich auch umgekehrt: Wenn Kinder mit Intelligenzmängeln in einem bildungsfernen Elternhaus nicht gefördert werden, bleiben diese hinter ihrem Potenzial zurück. Martin Diewald über Ergebnisse der eigenen Zwillingsstudie:
    "Was wir gefunden haben, ist, dass ein Beitrag zur Ungleichheit in der Gesellschaft auch darin besteht, dass Eltern mit einer höheren Bildung dann, wenn die Kinder nach Wahrnehmung der Eltern weniger Potenzial haben, dass dann die Eltern kompensierend wirken, das heißt, sie beschäftigen sich mehr mit dem Kind und nicht weniger. Während Eltern aus unteren Bildungsschichten, da ist das eine Kind, das hat ein höheres Potenzial, dann wird sich mit dem Kind mehr beschäftigt. Und wenn es weniger hat, dann wird sich mit dem Kind wenig beschäftigt. Das heißt, dass die Kinder aus höheren sozialen Gruppen, selbst dann, wenn sie nicht so begnadet sind, oben bleiben, weil die Eltern sie massiv unterstützen, während Kinder aus unteren sozialen Gruppen nur dann aufsteigen, wenn sie zu den Helleren gehören und das auch sichtbar ist."
    Soziale Rückschlüsse können unterschiedlich ausfallen
    Dennoch warnt Martin Diewald davor, daraus zu schlussfolgern, dass Unterschiede zwischen Menschen unveränderbar und Ungleichheiten somit zu rechtfertigen seien. Die Umwelt, so zitiert Diewald den amerikanischen Soziologen Dalton Conley, könne dazu führen, dass, so wörtlich, "ein Gen für Aggression das Gettokind ins Gefängnis und den Sprössling aus einem Herrenhaus in die Vorstandsetage bringen kann".
    "Während vor einer Generation - salopp gesagt - die Rede davon war, sind es die Gene oder ist es die Umwelt? Und man gerne darüber spekuliert hat, ob das eine oder das andere wichtiger ist, ist es so, dass man heute weiß, dass beides unabhängig voneinander einen starken Einfluss hat. Aber auch, dass das Ausmaß, in dem genetische Anlagen zur Ausprägung kommen, von der Umwelt enorm beeinflusst ist, sei es, dass negative Potenziale unterdrückt werden, kontrolliert werden, sei es, dass gute Anlagen, die wünschenswert sind, beispielsweise besonders gefördert werden."
    Auch Lars Penke weist darauf hin, dass Unterschiede zwischen Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Erbanlagen zwar nie komplett nivelliert werden können, aber:
    "Wenn wir allen Menschen bessere Lebensbedingungen geben, allen Zugang zu dem gleichen optimalen Gesundheitssystem, der gleichen guten Ernährung und so weiter, dann erhöhen wir den IQ der gesamten Bevölkerung. Den Trend gibt es. Und der ist weltweit nachgewiesen."
    Doch irritierend sind solche Ergebnisse allemal. Die Vorstellung, dass angeborene Eigenschaften eine wesentliche Grundlage für die Chancenverteilung innerhalb einer Gesellschaft darstellen, verstößt gegen die in einer demokratischen Gesellschaft allgemein unterstellten Gleichheitsnormen. Und stellt sie sich nicht auch gegen die gesellschaftlich verbreitete Überzeugung, dass Chancenungleichheit immer eine Frage sozialer Ungerechtigkeit ist? Was aber, wenn die Natur sozusagen ihre Gaben schon ungerecht verteilt? Rainer Riemann, Psychologe an der Uni Bielefeld:
    "Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, die Verteilung von Genen ist ungerecht. Man kann nur sagen, es gibt begabtere und weniger begabte Kinder. Und da müssen wir als Gesellschaft insgesamt Verantwortung übernehmen."
    Letztlich, meinen die Wissenschaftler, sei es eine normative und daraus resultierend dann eine politische Frage, wie man mit ererbten Ungleichheiten umgehe. Ob man diese als natürliche, quasi schicksalhafte Ungleichheit akzeptiere – oder gerade deshalb solchen vom Schicksal Benachteiligten besondere Förderung angedeihen lasse.
    "Hinsichtlich der Auswirkungen von genetischen Eignungen und Risiken kann man sagen, das sind meine Gene und ich habe das Recht, davon zu profitieren - völlig uneingeschränkt. Man kann genauso gut die andere Position nehmen und sagen, wenn man für etwas gar nichts kann, dann sind es die eigenen Gene und wenn man für etwas gar nichts kann, dann sollte man im Leben nicht dafür bestraft werden. Das heißt umgekehrt, dass solche mit etwas schlechterer genetischer Prägung besonders gefördert werden sollten, weil sie dafür nichts können."
    Zumindest die soziale Ungleichheit, wie sie durch unterschiedliche Umwelt-, Gesundheits- und Bildungsbedingungen zwischen den gesellschaftlichen Schichten besteht, könne und müsse, so Lars Penke, weitgehend verringert werden:
    "Das hängt davon ab, was für Strukturen wir schaffen mit dem Bildungssystem, mit dem Gesellschaftssystem allgemein. Man kann nicht erwarten, dass jeder den allerhöchsten Bildungsabschluss macht, aber man kann sich fragen, wie man eine Gesellschaft gestaltet, dass all diesen Menschen ein gutes gleiches Leben ermöglicht wird. Das sind politische, gesellschaftliche Entscheidungen."
    Für die Soziologie allerdings heißt es zunächst einmal, sich den Einsichten der Verhaltensgenetik zu stellen. Denn nur, wenn sie die Fakten anerkenne, so Martin Diewald, könne sie zu einem besseren Verständnis der Genese sozialer Ungleichheiten im Lebenslauf beitragen. Und damit vielleicht auch Wege finden, wie bestehende Ungerechtigkeiten verringert werden können.
    "Dass wir Ungleichheiten in der Gesellschaft haben, die wir nicht mögen, das ist eine ganz klare Sache. Klar steht das mit unseren Gerechtigkeitsvorstellungen vielleicht im Widerspruch, aber wir müssen unter der Erkenntnis, dass Gene eine Rolle spielen, noch viel stärker in den Ungleichheitsdiskurs mit einbringen. Wir dürfen nicht dabei stehen bleiben und sagen, alles, was wir an Unterschieden in Gruppen finden, das ist eine Art von Benachteiligung, sondern wir müssen genau hinschauen, was für eine Art von Benachteiligung."