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Fortschritt mit Haken

Nichtphysiker und Nichtingenieure wissen über Nanotechnik gemeinhin kaum mehr, als dass sie sich in unvorstellbar kleinen Dimensionen abspielt und als Technik des 21. Jahrhunderts gilt. Der Autor Niels Boeing gelangt in seinem Buch "Nano?!" zu folgenden Einsichten: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie der nanotechnische Fortschritt aussehen könnte. Jede davon wird auch "einen Haken haben, der nicht zu den Verheißungen passt".

Von Sabine Sütterlin | 28.04.2005
    Nano. Fragezeichen. Ausrufezeichen. So prangt es in roten Lettern auf dem kanariengelben Buchdeckel. Der wortspielerische Anklang an die erstaunte Frage "Nanu?" ist kein Zufall. Denn Nichtphysiker und Nichtingenieure wissen über Nanotechnik gemeinhin kaum mehr, als dass sie sich in unvorstellbar kleinen Dimensionen abspielt und als Technik des 21. Jahrhunderts gilt.

    Ist sie es wirklich? Die Erwartungen sind geradezu euphorisch. Dafür steht das Ausrufezeichen im Titel. Das Fragezeichen, so stellt sich am Ende des Buches heraus, weist auf mögliche Gefahren oder auf ein Scheitern hin. Die Nanowissenschaft befindet sich noch im Frühstadium. Ob sie sich zu einer nutzbaren Technik entwickelt, hängt nicht allein vom Vorstellungsvermögen kreativer Gehirne ab. Sondern auch vom verfügbaren Kapital, von technischen Durchbrüchen, von der Verbreitung des Know-how. Und von der viel beschworenen öffentlichen Akzteptanz.

    Der Autor Niels Boeing führt uns zu folgenden Einsichten: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie der nanotechnische Fortschritt aussehen könnte. Jede davon wird auch "einen Haken haben, der nicht zu den Verheißungen passt". Und echten Fortschritt, lautet das Fazit, gibt es nur, wenn Nanotechnik unter Einbeziehung der Öffentlichkeit entwickelt wird. Denn die muss schließlich damit leben. Dazu muss die Öffentlichkeit nicht nur wissen, was Nanotechnik kann. Sondern auch, welche Nanotechnik sie will.

    "Nano?!" bietet eine reelle Chance, sich das notwendige Grundlagenwissen zu erwerben. Das kompakte Buch vermittelt umfassend, was Nanotechnik heißt und welche Möglichkeiten sich im Milliardstel-Meter-Bereich eröffnen.

    Niels Boeing, der Physik und Philosophie studiert hat, schreibt in der guten Tradition angelsächsischer Wissenschaftsautoren. Er hat sein Thema sauber strukturiert. Komplizierte Phänomene erklärt er mit anschaulichen Beispielen aus der Makrowelt. Und er schildert lebendig seine Begegnungen mit den Forschern wie auch mit den ziemlich spinnert anmutenden Visionären der Nano-Zunft.

    "Nano?!" ist in vier Kapitel unterteilt: Gestern. Heute. Morgen. Übermorgen. Wobei die Zukunft mehr als die Hälfte einnimmt.

    Wann "gestern" anfing, lässt sich genau datieren: Am 29. Dezember 1959 hielt der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman einen berühmt gewordenen Vortrag. Überschrift: "Es gibt noch reichlich Platz ganz unten". Darin skizzierte Feynman eine kühne Idee: Physiker könnten im Prinzip jeden beliebigen Stoff herstellen, indem sie einzelne Atome manipulierten.

    1981 nahm der Ingenieur Eric Drexler Feynmans Gedanken auf und entwickelte daraus die Vision molekularer Fertigungsroboter. Im gleichen Jahr erfanden die beiden Physiker Heinrich Rohrer und Gerd Binnig das Rastertunnelmikroskop. Damit ließen sich erstmals einzelne Atome sehen und sogar ergreifen.

    Heute tüfteln allenthalben Wissenschaftler an weiteren raffinierten Werkzeugen, die es ermöglichen, mit Elektronen zu hantieren, als wären es Schrauben, und mit Eiweißmolekülen, als wären es Legosteine. Niels Boeing hat die Forscher in ihren Labors besucht. Er erklärt nicht nur, was sie da genau tun. Er vermittelt auch ein gutes Bild davon, wie der Erkenntnisfortschritt zustande kommt: Gelegentlich durch einen Geistesblitz. Vor allem aber durch enge Zusammenarbeit zwischen Physik, Biologie, Chemie und Informatik, durch Basteln und Herumprobieren - und durch Zufall.

    Ein bisschen hat die Zukunft schon begonnen: Es gibt Sonnencreme mit UV-schluckenden Nanopartikeln. In manchen Autos verhindern Nanoröhrchen aus Kohlenstoff die Funkenbildung beim Tanken. Selbstreinigende Toiletten oder kratzfeste Autolacke sind machbar, wenn auch noch nicht bezahlbar. Auch an künstlichem Blut oder Quantencomputern wird gearbeitet.

    Doch für die Nano-Visionäre, so erfährt man, ist das alles nur Geplänkel. Die wahren Freaks träumen von extrem miniaturisierten Maschinen, Assembler genannt, die aus einer Lösung die passenden Atome und Moleküle picken und daraus beliebige Materialien zusammenbauen. Nahrungsmittel etwa, intelligente Medikamente und Werkstoffe mit nie dagewesenen Eigenschaften. Oder neue Assembler, die wiederum neue Assembler bauen.

    Die meisten Experten halten die Assembler gar nicht für machbar. Dennoch wecken diese sich selbst replizierenden Winzlinge Horrorvisionen. Nicht nur bei Kritikern oder Science-Fiction-Autoren. Eric Drexler selbst, der Erfinder der Vision von den Assemblern, hat sich ausgemalt, wie diese molekularen Roboter alle Biomasse der Erde zu Kopien ihrer selbst verwandeln, bis schließlich nur noch grauer Schleim übrig bleibt.

    Der Autor von "Nano?!" behält auch bei solch düsteren Aspekten des Themas seinen sachlichen Ton und seinen leisen Humor bei. Das macht die Lektüre von "Nano?!" zum Gewinn. Allzu leicht darf man sich diese Lektüre dennoch nicht vorstellen: Denn im subatomaren Bereich gelten die Gesetze der klassischen Physik nicht mehr. Die Besonderheiten der Quantenmechanik sind jedoch selbst heutigen Schülern nicht unbedingt geläufig. Gerd Binnig, der nobelpreisgekrönte Mit-Erfinder des Rastertunnelmikroskops, behauptet in seinem Vorwort zu "Nano?!" sogar, die Quantenmechanik sei "bisher vor der Öffentlichkeit fast geheim gehalten worden".

    Das mag einem Spezialisten so erscheinen, der ob der Ahnungslosigkeit seiner Zeitgenossen verzweifelt. In den letzten Jahren gab es jedoch gerade für Jugendliche und junge Erwachsene einige Bücher, die geschickt und lesbar in die Grundzüge der Quantenmechanik einführen. Niels Boeings "Nano?!" reiht sich nahtlos ein. Die Ausrede, wir hätten nicht wissen können, was mit der Nanotechnik auf uns zukommt, gilt ab sofort nicht mehr.

    Übrigens: Der Erfinder der Assembler, Eric Drexler, hat erst kürzlich sein Konzept selbst für unwissenschaftlich und nicht durchführbar erklärt. "Nano?!" war da längst gedruckt. Macht aber nichts: Niels Boeing hält seine Leser mit regelmäßigen Updates im Internet auf dem Laufenden.

    Service

    Niels Boeing: Nano?! Die Technik des 21. Jahrhunderts. rowohlt Berlin, Bücher für die nächste Generation, Berlin 2004. 192 Seiten, 16,90 Euro (für Jugendliche)