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Fortschrittsbericht
EU beklagt "Rückfall" der Türkei

Die EU-Kommission stellt der Türkei in ihrem neuen Bericht zur Beitrittsreife das bisher schlechteste Zeugnis aus. "Im Bereich der Meinungsfreiheit hat es im letzten Jahr einen schwerwiegenden Rückfall gegeben", zitieren mehrere Medien aus dem Entwurf der Untersuchung. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP kündigte nun an, das Parlament zu boykottieren.

06.11.2016
    Festnahmen bei einer Demonstration in Ankara im Zusammenhang mit den Festnahmen von Politikern der HDP.
    Die Behörden gingen auch gegen Demonstranten in Ankara vor, die gegen die Festnahmen von HDP-Politikern protestierten. (dpa/picture-alliance/Tumay Berkin)
    Die Kommission bemängelt demnach, dass Rechtsbestimmungen über die nationale Sicherheit und zum Kampf gegen Terrorismus "selektiv und willkürlich" angewendet würden. Sie äußere sich "ernsthaft besorgt" über die vielen verhafteten Journalisten und die Schließung von Medien seit dem gescheiterten Putsch im Juli. Auch hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz sei von einem "Rückfall" die Rede, berichten die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" und "Spiegel Online". Ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte sei nach dem versuchten Militärputsch entlassen worden.
    Langes Warten auf Richter
    Die EU-Kommission kritisiert in dem Bericht, der am Mittwoch veröffentlicht werden soll, außerdem, dass Beschuldigte während des weiterhin geltenden Ausnahmezustands bis zu dreißig Tage in Haft sein könnten, bevor sie einem Richter vorgeführt werden. Die EU-Kommission verweise auf Berichte, dass in diesem Zeitraum Gefangene immer wieder gefoltert worden sein sollen.
    Mehrfach wird in dem Fortschrittsbericht laut "FAS" hervorgehoben, dass der türkische Staat nicht nur gegen einzelne Menschen vorgehe, sondern sie wegen ihrer angeblichen Verbindung zur Gülen-Bewegung, die laut Ankara hinter dem Putschversuch steht, kollektiv unter Verdacht stelle. Die Vagheit der Kriterien und der Anhaltspunkte dafür gebe Anlass zu "sehr ernsten Fragen". Es entstehe der Eindruck, dass Schuld durch bloße "Assoziation" begründet werde.
    Der Bericht wurde - wie üblich - von Beamten verfasst. Er listet Mängel auf, empfiehlt aber nicht, wie künftig mit der Türkei verfahren werden soll. Das Land werde allgemein als "Schlüsselpartner" eingestuft, schreibt die Zeitung. Die politische Bewertung ist demnach Sache der Kommissare, die am Mittwoch darüber beraten, sowie der EU-Mitgliedstaaten.
    Zehntausende Menschen betroffen
    In der Türkei herrscht seit dem Putschversuch der Ausnahmezustand. Seitdem wurden mehr als 110.000 Beamte, Soldaten, Polizisten und Richter suspendiert oder eingesperrt, ebenso zahlreiche Journalisten. Zur Last gelegt werden ihnen Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK oder zur Gülen-Bewegung, die für den Umsturzversuch verantwortlich gemacht wird.
    Zuletzt erregten die Festnahme von Mitarbeitern der Oppositionszeitung "Cumhuriyet" sowie von den beiden Vorsitzenden und weiteren Politikern der prokurdischen Oppositionspartei HDP im Westen Kritik. Das harsche Vorgehen der türkischen Regierung hat in Europa einen Streit über die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Land entfacht.
    Aus Protest gegen die Verhaftungswelle ihrer Parteikollegen setzte die HDP ihre parlamentarische Arbeit weitgehend aus. Die zweitgrößte Oppositionspartei in der Nationalversammlung in Ankara teilte mit, sie ziehe sich zunächst aus allen Gesetzgebungsverfahren zurück.
    Über das weitere Vorgehen werde sie mit ihren Anhängern beraten. Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir sagte der Deutschen Presse-Agentur, eine denkbare Option sei die Aufgabe der 59 Mandate der Partei im Parlament. In einer Erklärung hieß es, die Partei reagiere damit auf "den umfassendsten und schwärzesten Angriff in der Geschichte unserer demokratischen Politik".
    (fwa/pg)