Dienstag, 16. April 2024

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Fotograf Nicholas Nixon
Vier Schwestern im Zeitraffer

Die Pinakothek der Moderne in München zeigt Nicholas Nixons Fotoprojekt "The Brown Sisters". Seit 1974 fotografiert er diese vier Schwestern einmal im Jahr. Die Bilder zeigen den Aufbruch ins Leben, aber auch jede Falte, jede Enttäuschung, die Veränderungen der Wechseljahre, der Krankheit und des Alters.

Von Christian Gampert | 22.03.2015
    Kameras des Typs Leica X1
    Nicholas Nixon fotografiert die Serie immer mit der gleichen Kamera. (picture alliance / Frank Rumpenhorst)
    Die Bildsprache des amerikanischen Fotografen Nicholas Nixon ist zurückhaltend, aber mathematisch genau. Das sieht man schon an den "Boston Views", die als kurzer Appetizer am Anfang der Ausstellung hängen. Nixon, der Mitte der 1970iger-Jahre nach seinem Studium nach Boston kam, portraitiert da seine neue Heimat, völlig fasziniert von der steinernen, mit Häusern zugestellten Stadtlandschaft, den massenhaft und schildkrötenartig auf Parkplätzen abgestellten Autos, den Vororten und dem weit sich öffnenden Hafen.
    Diese Bilder wirken wie Soziogramme. Man kann aufgrund ihrer präzisen Komposition das Leben, das Funktionieren dieser gebildeten und reichen Ostküstenmetropole quasi ahnen. Bekannt geworden ist Nixon dann mit ganz anderen Arbeiten, mit Bildern von Familien und Paaren, Porträts von Behinderten und Fotos von AIDS-Patienten, "People with AIDS", die er Ende der 80iger-Jahre veröffentlichte, auf dem Höhepunkt der Epidemie.
    Serien im streng komponierten Rahmen
    Es sind immer Serien, in denen er arbeitet, es sind immer die sichtbaren Spuren bereits vergangenen Lebens, die er zeigen will. Es ist immer der streng komponierte Rahmen, das Close-up, das Schwarz-Weiß in seiner brutalen Ehrlichkeit, das uns überzeugt.
    Nixons bekannteste Arbeit hat das Vergehen der Zeit zum Thema. Seit 40 Jahren fotografiert er "The Brown Sisters", einmal im Jahr, mit den stets gleichbleibenden Parametern: eine 8x10-Inch-Großformat-Kamera, Schwarzweiß, natürliches Licht, keine Nachbearbeitung. Die vier Schwestern stehen in immer der gleichen Aufstellung draußen in einer Landschaft, meistens ist es die Küste von Massachusetts.
    Zu Beginn der Serie sieht man noch viel von den Körpern der jungen Frauen, dann geht Nixon mit seiner Einstellung näher heran und zeigt die immer enger zusammenwachsende Gruppe. Man sieht, wie die Beziehungen der vier Schwestern untereinander sich ändern, Koalitionen und vielleicht Abhängigkeiten entstehen, man jemandem Schutz bietet oder ihn tröstet.
    Blick in die Zeitgeschichte
    Man sieht den unglaublichen Anfangsoptimismus dieser Frauen, ihre Schönheit, ihre Skepsis, Schwangerschaften, Krankheiten. Oder vielmehr: Man sieht es nicht so genau, man projiziert auch ein bisschen. Man sieht Zeitgeschichte, wechselnde Kleidermoden, fast keine Make-ups, wechselnde Frisuren. Aus langhaarigen Hippie-Mädchen werden intellektuelle und wahrscheinlich erfolgreiche Frauen, Ehefrauen, Mütter. Man sieht die langsam welkenden Körper, die Desillusion, die beginnende Traurigkeit.
    Zu Beginn der Aufnahmen war die jüngste der Schwestern 15, die älteste 25 Jahre alt. Das erste Foto entstand 1974 auf einer Familienfeier, aus einer Laune heraus, denn Nixons Frau Bebe ist eine der Schwestern. Nixon war mit dem Foto unzufrieden, überlegte sich ein strenges Arrangement, eine Standardisierung, und wiederholte das Bild im Jahr darauf. Daraus wurde dann eine Langzeitstudie, wie sie es in der Fotogeschichte noch nicht gab – trotz aller Porträt-Atlanten von August Sander, trotz der Bilder von Robert Frank oder in jüngerer Zeit der intensiven Personenstudien der Rineke Dijkstra.
    Die Frage ist: Wie viel geben diese Frauen von sich preis? Ziemlich viel. Auch wenn man ansonsten keinerlei Informationen über deren Leben hat – und respektvollerweise sich auch nicht verschaffen sollte -, so zeigen diese Bilder, wie authentisch, wie ehrlich, aber auch wie gnadenlos Fotografie sein kann. Es braucht Zutrauen zum Fotografen, um sich so zu zeigen. Man sieht den Aufbruch ins Leben, aber man sieht dann auch jede Falte, jede Enttäuschung, die Veränderungen der Wechseljahre, der Krankheit und des Alters.
    Es seien Bilder, "denen wir vertrauen können", sagte die Kuratorin Inka Graeve Ingelmann. In Zeiten digitaler Bildbearbeitung und damit digitaler Image-Optimierung ist das selten geworden. Nicholas Nixon besteht auf die altmodische analoge Fotografie, er ist ein Meister der Bildkonstruktion. Und diese Ausstellung führt uns vor, wie viel man mit wenigen Bildern zeigen kann.