Donnerstag, 25. April 2024

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Fotografien von Jean-Luc Moulène
Die europäische Position

Von Carsten Probst | 17.01.2015
    Fast 20 Jahre sind vergangen, seit Jean-Luc Moulène seinen bislang größten Auftritt in Deutschland hatte. 1997, anlässlich der documenta X, veröffentlichte der Franzose eine Serie von Farbfotografien in deutschen Zeitungen und Zeitschriften und auf öffentlichen Plakatwänden, die wie große Werbeanzeigen wirkten. Nahrungsmittel waren darauf zu sehen – Obst, Gemüse, Würste, Konserven – minimalistische Stillleben, die höchst ausgeklügelt nach geometrischen Gesetzen aufgebaut waren, jeweils verfremdet durch einen monochromen Farbstich der Fotografie und in leichter Unschärfe. Das Logo der documenta war darunter zu sehen, aber kein Name des Künstlers, kein Bildtitel. Was diese Bilder eigentlich bedeuten sollten, blieb völlig unklar. Sie zeigten etwas und sagten scheinbar doch gar nichts.
    Diese raffinierte Aktion des damals 42-Jährigen traf den Kern der Kunstdebatte der beginnenden Dienstleistungsgesellschaft der 90er: Ist Kunst nur noch ein Marktprodukt, eine Ware, eine Serviceleistung? Muss sie sich nicht im von Bilder überschwemmten Alltag behaupten, muss sie nicht für die Menschen da sein, lesbar sein, ihnen sinnliches Vergnügen und Kontemplation schenken? Jean-Luc Moulène überführte mit seiner Aktion beide Seiten des Irrtums: Seine Fotografien waren als Werbeanzeigen ungeeignet, weil ihnen die klare werbemäßige Botschaft fehlte. Sie erschienen aber trotzdem massenhaft dort, wo normalerweise Werbung zu sehen ist, und nicht im geschützten Raum einer Kunstgalerie. Und man konnte deutlich spüren: Kunst folgt auch dann noch ihren eigenen Gesetzen der Wahrnehmung, wenn sie in einem total unkünstlerischen Umfeld auftaucht.
    Erstaunlich genug, dass sich in Deutschland bis jetzt keine größere Kunstinstitution für Moulènes Werk interessiert hat. Die Überblicksschau im Kunstverein Hannover ist tatsächlich Moulènes erste hierzulande. Dass Kathleen Rahn als neue Kunstvereins-Direktorin dieses Versäumnis mit ihrer Antrittsausstellung ausbügelt, bestätigt ihren Rang als verdienstvolle und bestens orientierte Ausstellungsmacherin, den sie sich schon zuvor in Nürnberg erworben hatte.
    Aber zugleich könnte es für diese verdiente Würdigung Moulènes in Deutschland fast zu spät sein. Auf seltsame Weise wirkt sein inzwischen weiter gewachsenes Werk nicht mehr so aktuell, in seiner Haltung statisch und da und dort fast ein wenig aus der Zeit gefallen. Das liegt vielleicht am Rahmen insgesamt, dem klassischen Format der Ausstellungsräume, in denen gerahmte Fotografien, skulpturale Objekte und Zeichnungen schnell ein wenig konventionell wirken.
    Aber auch die von der documenta her bekannte Strategie Moulènes, Bildern ihre offensichtliche Bedeutung zu entziehen, sie gewissermaßen gegenüber dem schnellen Blick in Streik treten zu lassen, wirkt im Jahr 2015 deutlich anders als noch 20 Jahre zuvor. Eine Serie, die um das Jahr 2000 entstanden ist, zeigt Produkte, die von streikenden Arbeitern gemacht wurden und dadurch ihr handelsübliches Aussehen verändert haben: eine Ausgabe des "Harold Tribune" ohne Fotos, eine Tomatendose mit arabischer Beschriftung. Eine Packung Gauloises-Zigaretten in Rot, nicht im üblichen Blau.
    So wie der junge Moulène selber die Bilder streiken ließ, indem er den darauf sichtbaren Gegenständen die unmittelbare Bedeutung entzog, so findet in dieser Serie die Bebilderung des Streiks selbst statt. Das Politikum des Streiks, also der produktiven Verweigerung, möchte Moulène auch auf die Kunst angewandt wissen – gegenüber dem Mainstream der schnellen Bilder unserer immer schnelleren Medienwelt. Indem er vorgefundene Masken mit Beton ausfüllt und fotografiert, sodass sie wie archaische Ritualköpfe wirken, lässt er gewöhnliche Alltagsgegenstände zu vermeintlich überzeitlichen Objekten werden.
    Damit provoziert er Fragen, die schon lange nicht mehr so zu hören sind in Ausstellungen von Gegenwartskunst: Ist dieses Bild authentisch? Was ist Bild, was ist Objekt? Rasend schnell, das wird an dieser Ausstellung geradezu schmerzhaft deutlich, hat sich unsere Welt in den letzten Jahren über solche Fragen hinwegbewegt, die Grenzen verwischt oder ausgelöscht und eine Indifferenz entstehen lassen, in der eine hochintelligente, tiefgründige Position wie Moulènes wie ein Rufen aus der Wüste wirkt. Es fällt als Statement erstaunlich museal aus.