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Fotografin Dorothea Lange
Die Wirklichkeit zu Sinnbildern verdichtet

In den 1930er-Jahren reisten einige Fotografen im Auftrag der Regierung durch die USA, um die verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise zu dokumentieren. Eine von ihnen, die durch diese Arbeit weltberühmt wurde, war Dorothea Lange. In ihren Bildern verdichtete sich die gesellschaftliche Wirklichkeit der USA. Sie starb heute vor 50 Jahren.

Von Anette Schneider | 11.10.2015
    Dorothea Langes Foto "Migrant Mother" von 1936
    "Migrant Mother" ist eines der Fotos, die Dorothea Lange berühmt machten. Es entstand 1936 während der "Großen Depression" in den USA. (imago/UIG)
    "Morgens hängst Du dir die Kamera um, so wie du dir deine Schuhe anziehst, und schon hast du ein Anhängsel, das dein Leben mit dir teilt. Die Kamera ist ein Instrument, das Menschen lehrt, ohne Kamera zu sehen." So zitiert Robert Coles die Künstlerin in seiner 1982 erschienenen Monografie "Dorothea Lange. Ein Leben für die Fotografie". Menschen das Sehen lehren - dieser Anspruch prägt das gesamte Werk der Fotografin.
    1895 wird sie in New Jersey in einfachen Verhältnissen geboren. Sie ist zwölf, als die Mutter mit ihr und ihrem Bruder nach New York zieht. Da sie als Folge von Kinderlähmung hinkt, wird sie zur Einzelgängerin: Sie stromert durch Manhattan, beobachtet die Menschen, entdeckt die gesellschaftlichen Widersprüche zwischen arm und reich, und weiß nach Beendigung der High School genau: Sie will Fotografin werden. "Der Entschluss war plötzlich da. Ich hatte einfach das Gefühl, dass die Fotografie das Richtige für mich war."
    Parallel zu einem Lehrerstudium lässt sie sich zur Fotografin ausbilden. 1919 eröffnet sie in San Francisco ein Studio und wird zur gefragtesten Porträtistin der High Society. Doch Anfang der 30er Jahre trifft sie eine folgenreiche Entscheidung. Die Fotohistorikerin Esther Ruelfs: "Im Grunde genommen geht sie von ihrem Studio vor die Tür und schaut, was da passiert. Und das ist eben die Zeit der Großen Depression in Amerika. Und sie beginnt dann, die Schlangen vor den Suppenküchen zum Beispiel zu fotografieren und sich diesen sozialen Themen zuzuwenden."
    Mitbegründerin einer modernen Dokumentarfotografie
    Bald lernt sie den sozial engagierten Ökonomen Paul Taylor kennen, der sie für seine Studien über Arbeitslose engagiert. Die beiden heiraten und entwickeln zahlreiche gemeinsame Projekte. In dieser Zeit entstehen Langes wichtigste Arbeiten. Oft verdichtet sie die Wirklichkeit zu eindringlichen Sinnbildern der gesellschaftlichen Verhältnisse. 1934 etwa fotografiert sie einen Mann, der vor einer grauen Mauer hockt, das Gesicht in den Armen verborgen, neben sich eine umgedrehte Schubkarre. "Ich (wollte) einen Mann fotografieren, wie er in seiner Welt stand - mit gesenktem Kopf, den Rücken gegen die Wand, mit seiner Existenz am Boden - so wie sein umgedrehter Schubkarren."
    1935 beauftragt die US-Regierung im Rahmen des New Deal einige Fotografen, über das Ausmaß der Armut aufzuklären. Zu ihnen gehören Walker Evans, Ben Shan und Russel Lee, die mit Lange als Begründer einer modernen Dokumentarfotografie gelten. "Mit diesem Team zieht sie dann los und fotografiert eben die Arbeitslosen, die Obdachlosen, die Migranten und die Landarbeiter, die von der Dürre nach Kalifornien quasi geschwemmt werden und da an den Straßenrändern dann wiederum den Migranten sozusagen Konkurrenz machen um diese Arbeit auf den Farmen."
    Ein größerer Blick auf die Gesellschaft
    Fünf Jahre lang reist Dorothea Lange durch das Land. Doch anders als einige ihrer Kollegen will sie nicht nur das Elend der Entwurzelten dokumentieren. "Es ist nicht leicht, einen stolzen Mann vor einem Hintergrund zu fotografieren, der nicht zeigt, worauf das Selbstgefühl des Mannes gründet. Ich musste die Dinge erfassen, die wichtiger waren als die Armut dieser Menschen - ihren Stolz, ihre Stärke, ihren Mut."
    Das gilt auch für eines der Bilder aus der Reihe "Migrant Mother": Eine Wanderarbeiterin hockt unter einer Plane und blickt abwesend in die Ferne, während zwei Kinder sich an sie lehnen und ein drittes in ihrem Schoß liegt. Diese moderne Marienfigur erschien in allen großen Zeitungen und wurde schnell zur weltberühmten Bildikone. Kaum gedruckt wurden dagegen Langes entlarvende Porträts feister, selbstzufriedener Großgrundbesitzer.
    Esther Ruelfs: "Aber es gibt eben auch die andere Seite. Und sie hat das im Grunde eingebettet in einen größeren Blick auf die Gesellschaft. Sie wollte Armut eben als ein gesellschaftliches Phänomen fassen, was immer eben Armut und Reichtum auch bedeutet, und dass Armut und Reichtum natürlich einander bedingen."
    Lange zeigt das in ihren Bildbänden und Ausstellungen, zum Beispiel 1940 im New Yorker Museum of Modern Art. Mitte der 40er-Jahre erkrankt sie so schwer, dass sie jahrelang nicht mehr fotografieren kann. Sie bleibt geschwächt bis zu ihrem Tod am 11. Oktober 1965. Zwar bereist sie mit Taylor noch die Welt und es entstehen einige Fotoreportagen, doch es sind die Arbeiten aus den Jahren der Großen Depression und des New Deal, die Dorothea Lange zur bedeutendsten Dokumentarfotografin ihrer Zeit machen.