Aus den Feuilletons

Wenn politische Korrektheit zur Norm wird

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 Der Eintrag zu "Political Correctness" im Duden
Einige Feuilletons schreiben über "Wokeness" und "Normkritik" - und die Frage, wer die Hoheit über Political Correctness hat. © dpa / Franz-Peter Tschauner
Von Arno Orzessek · 19.01.2020
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Politisch besonders korrekte Menschen sind neumodischerweise „woke“, also besonders wachsam. Als Anhänger der "Normkritik" hinterfragen sie alle Grundsätze. „SZ“ und „NZZ“ beschäftigen sich damit, was diese Konzepte in unserem Alltag konkret bedeuten.
Wenn Sie gute Feuilletons schätzen, sollten Sie an diesem Montag nicht nur mit Klimpergeld am Kiosk aufkreuzen – es lohnt sich nämlich, viele Zeitungen zu kaufen. Zum Beispiel die Tageszeitung DIE WELT, in der es unter der Überschrift "Keine Besprechung. Eine Befehlsausgabe!" heißt: "Seit Langem sucht man Hitlers Befehl für den Holocaust. Dabei haben wir ihn doch. Man muss nur das Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1940 richtig lesen." Wie das geht, erklärt der Dichter Jeremy Adler, ehemals Professor für Deutsche Sprache am Londoner King's College. Sehr lesenswert!

Hitlers Einsatz für Alkohol

Um vom Schrecklichsten zum Alltäglichsten in der braunen Epoche zu kommen: "Lauter trunkene Volksgenossen" betitelt die TAGESZEITUNG ein Interview mit der Historikerin Dorothea Schmidt, die hervorhebt: Die Nazi-Ideologie habe zwar propagiert, der "‚arische Volkskörper‘" dürfe nicht durch Alkohol geschwächt werden, gesoffen wurde trotzdem. Und Adolf Hitler hat sich offenbar sogar noch tief im Zweiten Weltkrieg persönlich für "‚die Bereitstellung der nötigen Biermengen‘" eingesetzt:
"Trunkenheitsexzesse sind zumindest von den Nürnberger Parteitagen dokumentiert, denn sobald die großen Ansprachen und Aufmärsche am Zeppelinfeld vorbei waren, fielen die Teilnehmer in die lokalen Bierwirtschaften ein." Mag sein, dass Ihnen das mit der Sauferei nichts Neues ist, denn ob in Littells Roman "Die Wohlgesinnten" oder in Tarantinos Film "Inglourious Bastards": saufende Nazis, wohin man blickt.

"Die Normkritik hat die Macht und setzt die Norm"

Aber vermutlich haben Sie noch nichts von der gruseligen "Normkritik" gehört, die laut SÜDDEUTSCHER ZEITUNG in Schweden um sich greift. Thomas Steinfeld erklärt die Absicht der Normkritik, alle gesellschaftlichen Normen zu hinterfragen, zu einer hochmütigen Attitüde:
"Die Normkritik hat die Macht und setzt die Norm – die nun wiederum nicht kritisiert werden soll. Eine solche Normkritik kann also letztlich nur eine Aufforderung zur ‚Jagd‘ sein: Fort mit allem, fordert sie, was eine Norm im verpönten Sinn verkörpert, und das heißt: etwas anderes als ‚unsere‘ Norm. Unter dem Vorwand der Humanität wird also das Gegenteil des Beanspruchten durchgesetzt: nicht nur das Aussortieren des Abweichenden, sondern auch die Banalisierung des Komplexen."
Die schwedische Normkritik – verrissen vom SZ-Autor Thomas Steinfeld.

"Greta Thunberg und Lukas Bärfuss sind woke"

Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG schießt sich derweil unter dem sarkastischen Titel "‚Sei wach, richte über andere, fühle dich gut‘" auf die neumodische Wokeness ein, worunter laut NZZ eine "gesteigerte Form der Political Correctness" zu verstehen ist:
"Ihre Verfechter", so Simon M. Ingold, "erklären sich als ‚woke‘ – eine von ‚awake‘ abgeleitete Wortkreation, die eine höhere Form von Bewusstsein in Bezug auf den prekären Zustand der Welt unterstellt. Woke ist, wer Autos und Flugzeuge als Fortbewegungsmittel ablehnt, wer sich der Fortpflanzung verweigert und Amazon boykottiert. Nicht woke ist, wer dem antiquierten Schönheitsideal 90-60-90 nachhängt und Ausstellungen von Balthus besucht. Greta Thunberg und Lukas Bärfuss sind woke. Prince Andrew und Peter Handke sind es nicht."
Tja! Ob Sie wohl woke sind? Wir selbst dürften als Auto- und Motorradfahrer keine Chance auf das Premium-Prädikat haben – aber sei's drum.

Zwei sehr gute "Iwanow"-Inszenierungen

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zeigt sich Simon Strauss hingerissen von Johan Simons Bochumer Inszenierung der Tschechow-Tragödie "Iwanow": "Wenn man nur einen Abend hätte in diesem Jahr: nach Bochum, nach Bochum." Falls Sie dem Hinweis folgen, verpassen Sie allerdings die "Iwanow"-Inszenierung von Karin Beier am Hamburger Schauspielhaus. Und selbige findet die FAZ-Autorin Irene Bazinger auch ganz gut.
Übrigens: Während die FAZ den Schubert-Liederabend des Countertenors Philippe Jaroussky in Berlin nicht so toll fand, schreibt Eleonore Büning im Berliner TAGESSPIEGEL die großartigste und wortmächtigste Eloge des Tages. Ein Lesevergnügen erster Klasse! Wie gesagt: Nehmen Sie nicht nur Klimpergeld mit zum Kiosk!
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