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Fräuleinwunder in Berlin

Der "Zeit"-Literaturredakteur Florian Illies ist begeistert von Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill". Der Roman sei keine leichte Lektüre. Den Leser befalle jedoch das Gefühl, er habe etwas völlig Neues in der Hand - einen neuen Versuch, mit der Gegenwart literarisch umzugehen.

Florian Illies im Gespräch mit Katja Lückert | 25.01.2010
    Katja Lückert: Fast alle Welt spricht zurzeit von der 17-jährigen Helene Hegemann, die Tochter des bekannten Theaterdramaturgen Carl Hegemann, die mit "Axolotl Roadkill" offenbar einen Roman vorgelegt hat, von dem Maxim Biller in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als große Literatur spricht, und auch die "Zeit" schreibt, Zitat: "Etwas nervtötend, was den Fickundkotz-Jargon und den nicht minder gewollten Theoriejargon der 'heterosexuellen Matrix' und Ähnliches betrifft. Aber packend im disharmonischen Gesamtklang, einer Mischung aus schwärzester Verzweiflung und spinnerter Vergnügung. Was man heraushört, ist weniger die Stimme irgendeiner Generation als vielmehr das Grundgeräusch unserer Gegenwart." An den Autor und Literaturkritiker Florian Illies die Frage: Wunderkind, Fräuleinwunder – was hat der Literaturbetrieb in einem solchen Fall für Attribute, und passen die?

    Florian Illies: In diesem Falle muss man den Literaturbetrieb gar nicht schelten, sondern man kann sich einfach freuen, dass offenbar Qualität spürbar ist. Es ist ein Buch nicht nur mit einem fast unaussprechlichen Titel, diesem "Axolotl Roadkill", sondern auch ein sehr, sehr schweres, sperriges Buch, und zugleich springt einen spätestens ab der zweiten Zeile an, dass hier etwas Außergewöhnliches geschehen ist. Und ich glaube, dieses Moment, dass man es hier mit einem außergewöhnlichen Werk einer tatsächlichen außergewöhnlichen Literatur zu tun hat, der ist offenbar all den Kollegen in den verschiedensten Redaktionen ganz ähnlich gegangen. Also ich empfinde das gerade jetzt als einen Gegenteil von Hype, sondern ein Beweis für die Wachheit der Literaturkritik, dass sie trotz all dieser naheliegenden Kategorisierungen es trotzdem wagt, hier mit solch großen Trompeten dieses Buch zu preisen.

    Lückert: Der Titel "Axolotl", ein mexikanischer Molch, ein Reptil, der immer in der Pubertät verharrt, so habe ich es verstanden, ist das eine schwere Metapher schon im Titel?

    Illies: Das ist eine schwere Metapher im Titel, und dieses ganze Buch ist durchzogen von diesem ganzen Psychojargon, Theoriejargon und eben auch mit den symbolischen Entsprechungen. Das Wunderbare ist, dass das einerseits sehr unaufdringlich geschieht, andererseits aber souverän bewältigt. Also das ist kein Buch, über das sich die Psychologen beugen können und sagen, hier ist dieses Kind, das von der Mutter verlassen wurde und das sich das alles verarbeitet hat jetzt in Form dieser Literatur – das hat Helene Hegemann längst niedergeschrieben in diesem Buch. Also sie ist eigentlich allen Interpreten, allen psychologischen Deutungen immer schon voraus, weil sie in dieser Ich-Erzählerin Mifti, deren Lebensgeschichte in Berlin der Gegenwart erzählt wird – eigentlich diese ganzen Metaebenen sind schon reingeflossen und eben in einer ganz merkwürdigen eigenwilligen Sprache, die zwischen Sperrigkeit und Schnoddrigkeit perfekt schillernd changiert. Und es ist keine leichte Lektüre, es ist aber eine Lektüre, von der man das Gefühl hat, wow, hier, in dieser Sekunde habe ich etwas Neues in der Hand, was ein neuer Versuch ist, mit dem, was die Gegenwart ausmacht, literarisch umzugehen. Houellebecqs "Elementarteilchen" oder Christian Krachts "Faserland" waren ähnliche Bücher ...

    Lückert: Würden Sie Charlotte Roches "Feuchtgebiete" auch dazurechnen?

    Illies: Nein, ich glaube, das ist was anderes. Also hier hatte ich eher das Gefühl, dass für Helene Hegemann tatsächlich die Literaturkritik zuständig ist und dass man, wenn man an Houellebecqs "Elementarteilchen" denkt oder an ähnliche Phänomene denkt, wo durchaus auch eine Sperrigkeit oder eine Verstörung stattfindet beim Lesen, dass das etwas markiert. Und ich glaube, dass hier versucht wird das erste Mal, aus dem, was all diese Fräuleinwunder oder diese Kategorisierungen für die Gegenwart, wo das erste Mal man sieht, wie ein Ausweg vor allem auch einer jüngeren Generation sein könnte. Denn die Autorin ist 17, und das ist dann doch Atem nehmend, wenn man sieht, mit welcher Souveränität hier geschrieben, argumentiert, abgewatscht wird.

    Lückert: Worum geht es genau? Die Kinder der Künstler am Prenzlauer Berg, auch Drogenszene, alles dabei?

    Illies: Ja, man kann wie bei jedem wirklich interessanten Buch nicht sagen, um was es eigentlich geht. Es ist eigentlich natürlich ein ganz klassischer Bildungsroman. Lehrjahre des Herzens sind es, die hier geschildert werden, die spielen jetzt in Berlin.

    Lückert: Vielleicht eher "Bonjour Tristesse"?

    Illies: Eher so, auch das ist ein sehr guter Vergleich, weil das ist von der Wirkung her sicherlich dem Beispiel von Françoise Sagan vergleichbar, die damals 18 war, als sie das schrieb, und sie ist jetzt hier 17. Es hat überhaupt nichts von der Schönheit, die man aus diesem französischen Mittelmeerroman kennt, sondern es ist eher ein kaputtes, ein drogensüchtiges, ein beschädigtes Berlin, was man hier erfährt. Es ist aber eben genau deshalb auch ein Roman aus der Gegenwart, weil er diese Berlinbilder eigentlich in sich auch meiner Meinung nach alle vorführt und ins Leere laufen lässt. Also es behandelt eigentlich das Aufwachsen und die Sehnsucht nach der verlorenen Mutter und die Sehnsucht nach dem Vater und das Ringen mit sich selbst und dem eigenen Aufwachsen, aber es ist vor allem ein literarisch hochinteressantes und ich glaube für die nächste Generation sehr wichtiges Buch.

    Lückert: "Axolotl Roadkill", das Romandebüt der 17-jährigen Autorin Helene Hegemann, begeistert die Literaturkritiker, unter ihnen auch Florian Illies.