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Archiv


Frage des Archivs

Die von Jacques Derrida entwickelte Methode der Dekonstruktion ist ein vorwiegend auf Texte beziehungsweise schriftliche Zeugnisse bezogenes Interpretationsverfahren. Dennoch ist der 2004 verstorbene französische Philosoph nicht müde geworden, weitere kulturgeschichtliche Gegenstandsbereiche in diesem Sinne einer neuen Sichtweise zu eröffnen.

Von Michael Wetzel | 15.10.2007
    Sein letztes Buch über den Irak-Krieg und speziell die von der amerikanischen Politik unterstellte Ideologie des Schurken-Staates war ein anschauliches und aktuelles Zeugnis für diese Wendung der Dekonstruktion in Richtung von Themen der Ethik und Politik. Aber schon früher hatte Derrida die Grenzen einer bloß semiologischen, das heißt auf sprachliche Zeichenbeziehungen beschränkten Kulturtheorie zur Diskussion gestellt, indem die alternative informative und kommunikative Kompetenz von Bildern, speziell von technischen Bildern am Beispiel der Photographie untersuchte. In diesem Sinne durchzieht das gesamte Werk, angefangen beim ersten Hauptwerk über die "Grammatologie", eigentlich ein Grundthema, das man als die Frage nach den medialen Voraussetzungen des Denkens bezeichnen kann.

    Und dennoch hat Derrida keine Medientheorie im engeren Sinne ausgearbeitet. Im Zusammenhang der genannten Überlegungen zum Bild finden sich allerdings explizite Argumente für eine Theorie der Photographie, die vor allem an die entsprechenden Ansätze bei Roland Barthes anschließen. Die Spekulationen über "Die Postkarte" thematisieren in diesem Kontext auch das postalische System als Netzwerk eines kommunikativen Übertragungsmediums. Gelegentlich hat sich Derrida im Rahmen seiner Arbeiten zur Ästhetik und Kunsttheorie auch über den Film als Medium geäußert und sein Buch über James Joyce nimmt das Motiv des Grammophons als mediale Leitmetapher auf. So kam vor über zehn Jahren Bernard Stiegler, der heutige Leiter des IRCAM-Insituts für Akustik und Musik am Centre Pompidou in Paris, auf die Idee, Derrida zu einem längeren Fernsehgespräch einzuladen, in denen es explizit um Fragen der modernen Medien und einer entsprechenden Theorie gehen sollte. Als Rahmenthema wurde der Begriff der "Echographie" vereinbart, in dem schon ein Grundmotiv und ein historischer Ansatzpunkt anklingen: nämlich die Verdopplungsstruktur medialer Produktionen und Walter Benjamins legendärer Aufsatz über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Im engeren Sinne ging es aber immer wieder um die Herausarbeitung einer medien-ethischen Perspektive, die um die Fragen von Verantwortung, Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit und Authentizität im Zeitalter der Informations- und Kommunikationsmedien kreist.

    Als Einleitung zu den Fernsehgesprächen bietet der nun auch auf Deutsch erschienene Band Ausschnitte aus einem anderen Gespräch, in dem Derrida den Neologismus "Artefaktualität" zu erläutern versucht. Zusammengesetzt aus den Bestandteilen "Artefakt" für die Künstlichkeit medialer Produkte und "Aktualität", was im Französischen auch "Nachrichten" bedeutet, soll dieser Kunstbegriff in erster Linie auf den Entstehungskontext oder Herstellungsrahmen jeder medialen Information verweisen. Im Gespräch mit Stiegler unterstreicht Derrida diese Selbstbezüglichkeit noch einmal:
    "Die Wortkreuzung "Artefaktualität" sollte zunächst bedeuten, dass es Aktualität – im Sinne von "das, was aktuell ist" oder eher "das, was unter dem Titel Nachrichten (actualités) von den Radio- und Fernsehsendern ausgestrahlt wird" – nur in dem Maße gibt, wie ein Ensemble technischer und politischer Dispositive zusammentrifft, um gleichsam aus einer unbegrenzten Masse von Ereignissen diejenigen "Tatsachen" auszuwählen, die die Aktualität ausmachen sollen: das, was man die "Fakten" nennt, aus denen sich die "Informationen" speisen." (S. 56)

    In diesem Sinne bekommt das Konzept der Dekonstruktion eine Bedeutung, die nicht auf einen ganz anderen, erst zu erfindenden Begriffszusammenhang verweist, sondern die verborgenen Voraussetzungen der gegebenen Inhalte in einer durchaus kritischen Weise hinterfragt. Man kann hier an Nietzsches Begriff der Genealogie denken, aber auch das Freudsche Modell des Unbewussten spielt eine Rolle, wenn Derrida nach den Unstimmigkeiten, den Verstimmtheiten oder der Diskordanz eines Unzeitgemäßen im Aktuellen fragt. Die Umgangsweise mit den medialen Tatsachen will also auch so etwas wie einen Widerstand wachrufen, einen Widerstand gegen die ungebrochene Glaubwürdigkeit der so genannten Informationen in ihrer objektiven Reinheit bzw. eine Skepsis gegenüber der Wahrheit der informellen Formate als solche. Dies wird von Derrida speziell auf der Ebene von Zeitlichkeit diskutiert, die von den Übertragungsmedien wie Rundfunk und Fernsehen angeblich im Sinne der direkten Echtzeit-Sendung überwunden wird. Aus dekonstruktivistischer Sichtweise bleibt vielmehr immer ein Rest an Aufschub, Abstand, Verzögerung, Differenz. Überhaupt sind die Daten in ihrer Aussagekraft wiederum rückgebunden an Verfahren der Interpretation und der Präsentation, die sie erst zu wirklichen Informationen werden lassen.
    Derrida wählt hierfür ein Anfang der Neunzigerjahre populäres Beispiel, nämlich den in Los Angeles geführten Prozess um den Fall von Rodney King. Zufälligerweise hatte ein Zeuge eine Szene mit seinem Camcorder gefilmt, in der weiße Polizisten einen Schwarzen brutal niederknüppelten. Man könnte nun mit Blick auf die Objektivität und Genauigkeit der medialen Dokumentation meinen, dass der Sachverhalt leicht zu klären und die Schuld der Polizisten beweisbar wäre. Der Prozessverlauf zeigte aber, dass Anklage und Verteidigung dasselbe Datenmaterial jeweils anders zur Stützung der eigenen Argumentation heranzogen und jeweils montierten. Derrida knüpft an dieses Paradox eine wichtige Unterscheidung an, die zwischen der bloßen Tatsache des Beweises oder dem Beweisstück und dem Zeugnis differenziert. Für ein wirkliches Zeugnis oder eine Bezeugung von Wahrheit braucht es einen Zeugen, der sein Zeugnis bekräftigen, ja beeiden und unterschreiben kann. Die bloße Technik der medialen Archive kann dies nicht leisten, sie kann nur Beweisstücke beibringen, die erst durch ihre diskursive Bezeugung Glaubwürdigkeit und damit Authentizität erlangen, Merkmale also, die keine mediale Valenz haben.

    In diesem Sinne verfolgen die Überlegungen Derridas in unterschiedlichen medialen Kontexten der Photographie, des Films, des Fernsehens aber auch der digitalen Archive des Computers die Gegensätzlichkeit von gegebenem Datenmaterial und informeller Präsentation oder Aneignung. Es geht dabei auch um juristische Fragestellungen, die sich mit Aspekten des Zugangs-, Verfügungs- und Kontrollrechts der Medien beschäftigen, wie das abschließende, den Diskussionszusammenhag zusammenfassende Nachwort Stieglers zur speziell digitalen Differenzierung des Bildmediums noch einmal verdeutlicht. Die durchweg gut lesbare Übersetzung der deutschen Fassung wird so mit Sicherheit einen neuen Anstoß für die Rezeption dieses so wichtigen französischen Philosophen geben und endlich auch dem deutschen Leser die Möglichkeit bieten, die ethisch-politische Wende Derridas in einer bislang unterbelichteten medientheoretischen Hinsicht nachzuvollziehen. Zugleich werden damit aber auch Perspektiven auf weitere Auseinandersetzungen Derridas mit Fragen medialen Konstruktion moderner Lebenswelten eröffnet, die sich vor allem mit dem Zusammenhang von Apparaten und Aufzeichnungsmaterialitäten der Information zum Beispiel beim Übergang vom Papierträger zur digitalen Speicherung beschäftigen (vgl.: Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten, aus dem Französischen v. M. Sedlaczek, Wien 2007). Was aber bleibt, das ist die Frage des Archivs, oder des – wie Derrida in einer jüngsten, und ebenfalls in diesem Rahmen auf deutsch erschienenen Studie formuliert – " Geheimnisses des Archivs ", das nämlich der allerältesten Frage von genealogischer Sinnproduktion nachgeht: warum etwas ist und nicht vielmehr nichts (vgl.: Genesen, Genealogien, Genres und das Genie. Das Geheimnis des Archivs, aus dem Französischen v. M. Sedlaczek, Wien 2007)!


    Jacques Derrida, Bernard Stiegler: Echographien. Fernsehgespräche. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Passagen Verlag Wien 2007. 188 Seiten