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Frank Castorf am Schauspiel Stuttgart
Größenwahn und künstlerische Impotenz

Frank Castorf hat am Schauspiel Stuttgart das Stück "Tschewengur" nach Andrej Platonov inszeniert. Ihm scheint dabei die Mitteilungsfunktion, die Theater normalerweise hat, völlig abhandengekommen zu sein, findet unser Rezensent. Es werde Zeit, dass der Spuk ein Ende nehme: Auch Castorfs andere Aufführungen quälten das Publikum.

Von Christian Gampert | 23.10.2015
    Die Schauspieler (v.l.) Andreas Leupold, Wolfgang Michalek, Horst Kotterba, Manja Kuhl, Matti Krause und Astrid Meyerfeldt vom Schauspiel Stuttgart bei einer Probe von "Tschewengur" am Schauspielhaus in Stuttgart in einer Inszenierung von Frank Castorf, aufgenommen am 19.10.2015.
    Die Schauspieler (v.l.) Andreas Leupold, Wolfgang Michalek, Horst Kotterba, Manja Kuhl, Matti Krause und Astrid Meyerfeldt vom Schauspiel Stuttgart bei einer Probe von "Tschewengur". (picture alliance / dpa / Thomas Aurin)
    Dass Frank Castorf jetzt in Stuttgart inszeniert, hat simple strategische Gründe: Seine Zirkusbude am Berliner Luxemburgplatz geht in fremde Hände über, der Mann braucht neue Abspielstätten für seine Gewaltfantasien. Wer sich mit dem Autor und Dissidenten Andrej Platonov vorher nicht beschäftigt hat, wird allerdings erst nach längerer Zeit und viel Geschrei erkennen, dass wir uns in der - leider misslingenden - russischen Revolution befinden. Das nicht ganz billige Dreh-Bühnenbild von Aleksandar Denic führt zunächst in die Irre und gibt dann deftige Hinweise: lauter Holzbaracken und Treppen, ein Film-Set für einen Western, der aber ein Eastern ist; darüber thront eine riesige Lokomotive. Es fährt ein Zug nach nirgendwo. Aber auch Leo Trotzki fuhr ja revolutionär mit der Eisenbahn durch Russland... Auf der anderen Seite gibt es noch eine ebenso riesige Windmühle, weil die Revolutionäre bei Platonov gegen Windmühlen kämpfen.
    Große, aber auch platte Bilder also. Warum aber ist die Revolution in Stuttgart so langweilig? Kurz gesagt: weil der Regisseur Frank Castorf heißt. Platonovs Menschen suchen verzweifelt das bessere Leben, das sie in einer Ortschaft namens "Tschewengur" zu finden hoffen, wo das sozialistische Paradies radikal verwirklicht werde. Immer wieder scheitern sie, nicht nur an Sachzwängen und dem Regiment der Bolschewiki, sondern, wie bei Dostojewski, vor allem an sich selbst, an Liebes- und Familienstreitigkeiten, epileptischen Anfällen, Mittelmaß, an der Verderbtheit der menschlichen Seele. Nach der Pause, man ist schon erschöpft, wird in Tschewengur der Kommunismus auch administrativ eingeführt, was mit der Liquidierung der Bourgeoisie verbunden ist. Da man das Glück nicht per Bürokratie herstellen kann, bricht nach fünfeinhalb Stunden alles in einem Blutbad zusammen, was von Castorf ausgiebigst ausgemalt wird.
    Über weite Strecken bleibt aber unklar, worum es überhaupt geht. Castorf ist die Mitteilungsfunktion, die Theater normalerweise hat, völlig abhandengekommen. Offenbar reicht es ihm aus, alle möglichen Zitate aneinanderzureihen, Roadmovie, Melodram, Kitsch- und Marschmusik, Pantomime, Ballett, sinnfreies Gestrampel. Russische Stummfilme werden mit dem Geschehen auf der Bühne überblendet, überhaupt wird ja alles abgefilmt, und für jeden gigantomanen Sound-, Licht- oder Videoeffekt stehen im Ausbeutungsbetrieb Theater 50 Technik-Sklaven bereit, wenn der Meister nur mit dem Finger zuckt.
    Zahlt den Zuschauern Stundenlohn!
    Platonovs Roman ist eine bittere, satirische Abrechnung mit der russischen Revolution, und eine Hauptrolle spielt bei ihm die Sprache, die mit der "Neuen Ökonomischen Politik" völlig hülsenhaft wird. Aber Sprache hat es ja bei Castorf noch nie gegeben - nur Körper und Gekreische. Ich habe noch nie eine Castorf-Inszenierung gesehen, in der nicht junge Frauen in kurzen Röcken und hohen Hacken hysterisch herumrannten und sich mit Blut und anderem beschmierten. Es sind dies die privaten Obsessionen eines älteren Herrn, die immer noch mal wiederholt und allem Anschein nach öffentlich alimentiert werden müssen. Größenwahn und künstlerische Impotenz sind hier in schöner Balance vereinigt, das Bühnenpersonal ist fünfeinhalb Stunden traulich beieinander, und das Thema scheint mittlerweile schnurzegal zu sein - Hauptsache, es geht hoch her in Castorfs pseudolinkem Disneyland.
    Kurz: Es wird Zeit, dass dieser Spuk ein Ende findet. Fachleute mögen einmal ausrechnen, wie viele andere Aufführungen man mit den Kosten einer einzigen Castorf-Inszenierung finanzieren könnte. Das ist der eine Aspekt. Der andere ist das Leiden der Zuschauer. In Stuttgart war der Saal nach der Pause halb leer, und die Frage ist, wer dort die dritte Vorstellung noch sehen will. Auch wenn Andrej Platonovs Trauer um das Scheitern des sozialistischen Projekts eigentlich ein Diskussionsanlass wäre (weil die kapitalorientierte Politik heute so kläglich versagt), kann Castorfs Redundanztheater dazu nichts beitragen. Im Gegenteil: Es quält die Menschen. Es gibt nur eine Lösung: Zahlt den Zuschauern Stundenlohn. Oder haltet endlich die Windmühlen an, an die der Windbeutel Castorf junge Frauen hängt, die die Beine spreizen müssen.