Freitag, 29. März 2024

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Frank-Jürgen Weise
"Ich bin beseelt von Lösungen und nicht von Problemen"

Für Frank-Jürgen Weise, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, steht die Aufgabe der Integration der Flüchtlinge in Deutschland erst noch bevor. Im Vergleich dazu seien die derzeitigen technischen Probleme beispielsweise bei der Erfassung der Flüchtlinge eher gering, sagte er im Interview der Woche im DLF. Der Prozess sei eine Sache von guter Arbeit und Organisation.

Frank-Jürgen Weise im Gespräch mit Birgit Wentzien | 10.04.2016
    BAMF-Chef Frank-Jürgen Weise nimmt am 25.02.2016 in Berlin im Haus der Wirtschaft an der Veranstaltung "Ankommen in Deutschland", dem Aktionsprogramm der Industrie- und Handelskammern zur Integration von Flüchtlingen teil.
    BAMF-Leiter Frank-Jürgen Weise schätzt, dass bis zu 15 Prozent der Flüchtlinge gut qualifiziert sind und schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden können. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Frank-Jürgen Weise ist Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Er wurde 1951 in Radebeul/Dresden geboren. Der diplomierte Betriebswirt und ehemalige Bundeswehr-Offizier war mehrere Jahre als Wirtschaftsmanager und Finanzberater tätig, bevor er 2002 als Finanzvorstand und stellvertretender Vorsitzender in die Bundesangentur für Arbeit wechstelte. 2004 folgte er Florian Gerster auf den Posten des Vorstandsvorsitzenden der Bundesangentur für Arbeit. Seit Oktober 2015 ist Frank-Jürgen Weise Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.

    Birgit Wentzien: Willkommen im Deutschlandfunk zum Interview der Woche, Herr Weise.
    Frank-Jürgen Weise: Grüß Gott, Frau Wentzien.
    Wentzien: Sie sind – und haben sich selber einmal so genannt – ein Rückstandsmanager. Das müssen Sie mir erklären, was ist das?
    Weise: Ich habe aktuell im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das Thema, dass durch eine unerwartet große Zahl von geflüchteten Menschen die Antragsbearbeitung im Rückstand ist. Das ist der erste Rückstand. Das Zweite: Als wir in der Bundesagentur für Arbeit gemeinsam im Team bearbeitet haben, was soll eigentlich das Ziel sein, dann war klar: Wir wollen nicht, dass in den Fluren der Arbeitsämter Bürger, die ihre Beiträge gezahlt haben, lange warten. Und das Dritte: Ich war einmal bei dem Automobilzulieferer VDO, der hat so hervorragende Produkte gehabt und die Nachfrage war groß.
    Wentzien: Das ist jetzt der Werbeblock.
    Weise: Und dabei war eben auch das Thema Rückstand. Und das ist ein bisschen symbolisch gemeint.
    Wentzien: Sie sind – wenn ich jetzt überspitzt frage, bleiben wir mal bei dem relativ frischen Posten als Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, also hier – als Rückstandsmanager am richtigen Ort?
    Weise: Ich empfinde das so. Denn was ich nicht mache, ist zum Beispiel dieses komplexe, ganz wichtige Asylverfahren: Wie können wir Rechtsstaatlichkeit garantieren, wie können wir den Menschen, die hierher kommen, begegnen, sodass sie zufrieden sind, dass wir aber auch richtig entscheiden? Das mache ich nicht. Ich bin auch nicht derjenige, der politischer Ratgeber ist. Sondern diese operative Situation von langen Wartezeiten – und die Bilder kennen wir von jungen Menschen, die in Lagern sind und lange warten –, das abzuarbeiten, das ist meine Hauptaufgabe und mein Beitrag.
    "Das war dann eine Entscheidung und der hat man sich zu fügen"
    Wentzien: Herr Weise, wir kommen gleich auf die einzelnen Beritte, die ja auch fundamental mit dem anderen Job, dem Hauptjob von Frank-Jürgen Weise, nämlich dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, verwirkt sind, wenn man so will. Lassen Sie uns ganz kurz nochmal bei Ihrer Person bleiben. Das ist, ich könnte mir vorstellen, eine Belastung, die Sie sich so auch nicht vor Antritt vor einem halben Jahr haben vorstellen können. Hatten Sie damals die Wahl, als die Kanzlerin und der Innenminister Sie fragten? Durften Sie mal kurz überlegen, als beide auf Sie zukamen und sagten: 'Jetzt nehmen Sie noch diesen Leiterposten dazu'?
    Weise: Sachlich und bezogen auf die Notwendigkeit, den Bürgern gerecht zu werden, hatte ich keine Wahl. Denn Eines ist klar: Diese Aufgabe ist so von dem Bundesamt nicht zu bewältigen gewesen – aus verschiedensten Gründen – und dieser Rückstand wandert auf die Bundesagentur zu. Denn 70 Prozent der Menschen, die kommen, sind erwerbsfähig und die kommen in die Agenturen und Jobcenter. Es wäre also nur eine Frage der Zeit gewesen, dieses Thema anzupacken. Und analytisch, wie ich bin, habe ich mir gedacht: Wenn ich das im vorgelagerten Bereich bereits beeinflussen kann, dann wird das für die Menschen und für unsere eigenen Beschäftigten in der Bundesagentur besser. Natürlich hätte ich sagen können: 'Ich will das nicht' – und es ist ja auch schon geschrieben worden, ich habe ja gute Vorschläge gemacht, wer das machen kann –, aber diese Entscheidung, dass ich das mitmachen muss – und ich werde da ungebührlich in den Vordergrund gestellt, es ist ja das Team der Kolleginnen und Kollegen –, das war dann eine Entscheidung und der hat man sich zu fügen.
    Wentzien: Da klingt der Soldat etwas durch. Ich will kurz zu Ihrer Person – bevor wir natürlich auf die einzelnen Inhalte kommen – sprechen. Sie waren Soldat auf Zeit, Sie haben bei der Bundeswehr Betriebswirtschaft studiert, Sie wurden dann zum Fallschirmjäger ausgebildet, Sie waren Dozent, Controller, Oberst der Reserve, haben lange Jahre dann in der Industrie gearbeitet – wir haben schon darüber gesprochen –, waren erfolgreicher selbstständiger Unternehmen, danach Finanzchef der damaligen Bundesanstalt für Arbeit und Sie wurden und sind Chef der Bundesagentur für Arbeit. Rückstandsmanager Frank-Jürgen Weise, wenn Sie jetzt auf diesen ehrenamtlichen Posten der Leitung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge schauen – da gibt es ja keinen Obolus für, das ist Ehrenamt?
    Weise: Nein, das geht nicht und das wäre auch unangemessen, weil ein Mensch auch nur eine Arbeit machen kann.
    "Wir haben eine Informationstechnologie vorgefunden, die überhaupt nicht ausreichend war"
    Wentzien: Waren in Ihrem langen Berufsweg seither die logistischen Probleme jemals so immens, wie in diesem Haus?
    Weise: Also, hinter all‘ diesen Verwendungen – es sind ja drei Stationen: Bundeswehr, Wirtschaft, Öffentlicher Dienst – gibt es eine Logik. Bundeswehr heißt ja, in unsicheren Lagen richtig zu entscheiden, mit Wahrscheinlichkeiten, mit Vermutungen, danach wird man erzogen, gedrillt, wird auch ausgebildet, dass das gut ist – letztlich ist ja auch eine Verantwortung für Menschen. In der Industrie war das Technische im Vordergrund, diese Frage, wie können wir gut verkaufen, wie können wir dem Kunden gerecht werden. Und so ein bisschen ist das dann hier mit reingekommen. Das war die Begründung, warum ich in ein Vorstandsteam mit dem Herrn Alt, der Politiker war oder ist, mit dem Herrn Becker, der aus der BA (Bundesagentur für Arbeit, Anm.d.Red.) kommt, ich als Beimischung, richtig funktioniert habe mit dem Wissen. Die Probleme im Moment sind tatsächlich, wenn ich das vergleiche, am größten, denn sie sind sowohl technischer Natur – wir haben eine Informationstechnologie vorgefunden, die überhaupt nicht ausreichend war – und sie sind deshalb schwierig, weil es um Menschen geht. Wir begegnen Menschen, die selber den Stress der Flucht haben, denen begegnen wir jetzt als zivilisiertes, gut organisiertes Land, aber mit großen Mängeln. Und was ich gedacht habe, dass sich die Beschäftigten im BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Anm.d.Red.) die Gremien, freuen, wenn wir unterstützen. Und ein bisschen enttäuscht hat mich, dass einige Wenige, vor allen Dingen Funktionäre sagten, sie haben kein gutes Gefühl, dass die große BA jetzt dem etwas kleineren BAMF hilft und haben Befürchtungen, dass damit Druck erzeugt wird.
    Wentzien: Übernahme vielleicht?
    Weise: Übernahme. Das, muss ich sagen, das ist wirklich für mich enttäuschend, weil es eine völlige Verschiebung der Aufgabe und der Schwerpunkte ist. Wir haben den Menschen gerecht zu werden und die eigene Befindlichkeit hat dabei überhaupt nichts zu suchen.
    "Diese Zeit verlangt, die Dinge noch einmal neu zu denken"
    Wentzien: Spielt dieses Gefühl oder diese Bearbeitung dieses Gefühls der feindlichen Übernahme auf der Seite der Beschäftigten noch eine Rolle oder ist das jetzt nach einem halben Jahr weg?
    Weise: Also, bei den Beschäftigten hat das nie eine Rolle gespielt, denn man hat ja die Beschäftigten in den Außenstellen mit ihrer nicht zu bewältigenden Aufgabe im Stich gelassen. Man hatte bereits im Januar 2015 doppelt so viele Zugänge wie Entscheidungen. Wenn da einer mal auf einem Blatt Papier gerechnet hätte, hätte er gemerkt: Mitte des Jahres ist der Rückstand 300.000. Und wir sprechen technisch über Rückstand. Was wir meinen ist: Menschen, die warten, rechtsstaatliche Entscheidungen, die nach acht Monaten nicht mehr rechtsstaatlich sind, weil eine Anhörung eines geflüchteten Menschen nach acht Monaten nicht mehr die Wahrheit trifft. Und insofern – Sie spüren es – ist mein Urteil sehr kühl: Da gibt es einige, die das nicht verstanden haben, mit denen will ich nichts zu tun haben. Der ganz überwiegende Teil der Beschäftigten wird neutral sein und berechtigt sagen: 'Ja, helfen die uns jetzt oder beschädigen die uns?' Und die werden jetzt schon spüren, dass wir helfen. Diese Zeit verlangt, die Dinge noch einmal neu zu denken. Und genau das mache ich, dass ich sage: Diese Art des Problems, wo manche sagen, das wäre so ein Jahrhundertproblem, das kommt ja erst noch, die Frage der Zuwanderung. Aber das, was wir jetzt in Deutschland zu bewältigen haben, das ist kein Jahrhundertproblem, das ist eine Sache von guter Arbeit, guter Organisation, alles das, was uns eigentlich ausmacht.
    Wentzien: Zu Gast im Deutschlandfunk im Interview der Woche ist Frank-Jürgen Weise. Und ich würde Sie jetzt gerne, Herr Weise, mal ein bisschen nach dem fragen, was ja so das Fundament ist, das ganz profane Geld, die Etatmittel, die Sie brauchen. Sie wollen in diesem Jahr über deutlich mehr als einer Million Asylanträge zum Ende des Jahres entschieden haben und die Bearbeitung dieser Anträge – wir haben darüber gesprochen – beschleunigen. Das bedeutet – ich habe jetzt mal nachgerechnet und im Bundesfinanzministerium geguckt –, Ihre Zahl der Asylanträge liegt um ein Drittel über der, die Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble veranschlagt. Jetzt durchkreuzen Sie dessen Etatrechnung, haben Sie schon mit Ihm gesprochen?
    Weise: Also, es gibt zwei Sichtweisen. Erstmal nicht deutlich über eine Millionen, sondern wir zielen auf eine Millionen Entscheidungen. Das ist unternehmerisch, das ist führungstechnisch. Ich muss ja die Menschen in ihrem Erfolg der Arbeit, in ihrer Anspannung, die Infrastruktur darauf einstellen. Ich ziele auf eine Millionen. Ein Haushälter muss aus der Vergangenheit heraus sagen: Was ist denn realistisch? Er kann ja nicht aufgrund dieser guten Idee vom Herrn Weise ohne weiteres etwas in den Bundeshaushalt stellen. Und die Vereinbarung ist: Wenn erkennbar ist, dass wir diese größere Zahl erreichen in Differenz zu den Haushaltsplanungen, dann werden wir rechtzeitig melden. Das wird für alle ein Erfolg sein, kameralistisch allerdings schwierig, die Einsparung wird bei den Ländern sein, dass die weniger Asylbewerberleistungsgesetz zahlen, dann tritt nämlich der Bund ein, bei den Erwerbsfähigen mit Arbeitslosengeld II. Und wir werden rechtzeitig melden, was kommt. Als Haushälter, auch selber in der BA, freue ich mich, wenn meine Kolleginnen und Kollegen ambitionierte Ziele nennen, aber ich würde es nicht unbedingt in den Haushalt schreiben.
    "Ich bin mit allen gewählten Politikern sehr zufrieden"
    Wentzien: Frank-Jürgen Weise hat mit den Flüchtlingen zu tun und je besser der Support und das Kümmern bei den Flüchtlingen sein wird, desto eher ist Frank-Jürgen Weise als Chef der Bundesagentur für Arbeit ja dann auch damit zufrieden – damit aus den Flüchtlingen von heute nicht die Kunden der Agentur von morgen werden. Wie sehen Sie da die Perspektive, Herr Weise? Das heißt, Sie sind ja ins Gelingen beider Aufgaben verliebt, das sind ja korrespondierende Röhren – auch finanziell?
    Weise: Ja. Hier könnte man tatsächlich einen Zielkonflikt erkennen, den ich allerdings auflösen möchte. Wenn das Bundesamt für einen Menschen, der heute acht Monate wartet, die Zeit auf drei Monate verkürzt, dann ist das für den Menschen gut, für das Verfahren gut und es entlastet die Länder für die Zahlung Asylbewerberleistungsgesetz. Wenn dieser Mensch erwerbsfähig ist, geht er aber mit seiner sozialen Last in Arbeitslosengeld II und die Kommunen und der Bund zahlen – Volksmund Hartz IV – früher und vielleicht länger das Geld. Und das muss man mit beachten, das ist in der Gesamteinschätzung ein Vorteil. Denn – das mag paradox klingen – ein arbeitsloser Mensch, den ich kenne, mit dem kann ich arbeiten, das ist ein Vorteil. Wenn jemand da ist und ich weiß noch gar nicht, ob er arbeitslos ist, erwerbsfähig und Ähnliches, ist es ein Nachteil. Also, insgesamt ist es ein Vorteil, aber in der kameralen Beurteilung hat der eine den Vorteil, der andere den Nachteil.
    Wentzien: Sind Sie eigentlich mit den Ländern in der Summe zufrieden oder gibt es da solche und solche?
    Weise: Also, ich bin ja als Amtschef nicht in einer Rolle, Noten auszugeben und zufrieden.
    Wentzien: Schade.
    Weise: Ich bin mit allen gewählten Politikern sehr zufrieden. Was ich mir erlaube ist, faktenbegründet kritische Hinweise zu geben. Und da spüre ich: Fast alle freuen sich über eine angemessene, aber gute, sachliche Rückmeldung, fast alle Politiker. Und das ist eine schöne Erfahrung als Staatsbürger und ich finde es auch notwendig, mir gegenüber als Amtschef Respekt zu wahren, wie die Dinge gemacht werden. Was gemacht wird, sagt immer der demokratisch legitimierte Politiker.
    Wentzien: Diese Querfinanzierung, die Sie andeuten, als Mensch bzw. Mann mit zwei Hüten, könnte ja ins Gespräch kommen, nämlich wenn Sie Geld quasi aus der Bundesagentur rüberschieben müssten in das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge?
    Weise: Das müsste man nochmal neu machen, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.
    Wentzien: Also, müsste der Weise des BA den Weise des BAMF querfinanzieren?
    Weise: Nein, aber es gibt folgenden Zusammenhang: Wenn wir acht Monate Wartezeit haben, dann zahlt ein Land für diesen Menschen, der nach dem ‚Königsteiner Schlüssel‘ dort ist und von der Ausländerbehörde Geld bekommt, acht Monate lang Geld nach Asylbewerberleistungsgesetz. Wenn ich diese Zeit auf drei Monate verkürze, dann springt der Bund ein, nicht die BA mit Beitragsmitteln, sondern der Bund mit Steuermitteln und zahlt für den erwerbsfähigen, also 70 Prozent dieser Menschen, Arbeitslosengeld II. Diese Umschichtung findet statt. Für alle in der Summe wird es preiswerter. Die Einsparung ist aber bei den Ländern und das Zusätzliche beim Bund.
    Wentzien: Ich würde aber gerne noch einmal eine Doppelhut-Frage weiterstellen.
    Weise: Gerne.
    "Für das Bundesamt ist das Ziel, dem Menschen gerecht zu werden"
    Wentzien: Denn je erfolgreicher Sie im BAMF wirken, desto erfolgreicher sind ja dann auch die Folgen für die BA. Will sagen, damit die Flüchtlinge von heute nicht quasi Ihre Kunden in der Agentur für Arbeit von morgen sind, ist es Ihnen ja in der Doppelfunktion daran gelegen, dass der erste Schritt sehr erfolgreich verläuft?
    Weise: Ja. Dort ist tatsächlich eine Schnittstelle, bei der ich aufpassen muss: Wo stehe ich? Für das Bundesamt ist das Ziel, dem Menschen gerecht zu werden und das Mittel ist, ganz schneller Durchlauf, rechtsstaatlich, sorgfältig, dem Menschen zugewandt, aber keine Wartezeit von acht Monaten, sondern eine durchschnittliche Wartezeit von drei Monaten. Das bedeutet bei der Bundesagentur, sie bekommt die Last in der Grundsicherung der Erwerbsfähigen mit Arbeitslosengeld II früher. In der Summe ist das ein Erfolg, weil die Menschen dann in unserer Betreuung sind. Das mag paradox klingen, aber jemand, den ich als arbeitslos erkenne, mit dem kann ich arbeiten – das ist ja mein Thema, das Thema "Erkennen" und "Anerkennen". Ist er noch nicht arbeitslos, dann ist er trotzdem da und kostet Geld, aber ich kann noch nichts tun.
    Wentzien: Herr Weise, die Wirtschaft war ja ungeheuer euphorisch, hat sich jetzt gerade so eine bisschen wieder heruntertemperiert. Und Sie waren nie skeptisch, aber Sie waren immer sehr vorsichtig und Sie haben die Einschätzungen, die sehr euphorischen zunächst der Wirtschaft nie geteilt. Sie haben gesagt: Ja, die Flüchtlinge kommen, aber von ihnen zu schließen darauf, dass möglicherweise wesentliche Größen des demografischen Problems dieses Landes damit gelöst werden, das wäre ein bisschen blauäugig. Wenn Sie in ein, zwei Sätzen mir bitte schildern sollten, wie schätzen Sie die Fähigkeiten der Menschen ein, die bei uns sind und wie meinen Sie, muss dieses Land damit umgehen? Das werden ja nochmal neue Herausforderungen sein und die Instrumente, die wir bislang haben, werden möglicherweise nicht reichen.
    Weise: Also ich glaube, die Euphorie war etwas sehr Schönes, weil man Gefühl für die Menschen hatte, die in Not sind und hierhergekommen sind. Und das würde ich uneingeschränkt so anerkennen und teilen. Die Frage: Hilft uns der Flüchtlingsstrom beim Fachkräftemangel? Nein. Hilft der uns bei dem demografischen Problem? Nein. Es könnte im besten Fall ein kleiner Beitrag sein, aber es ist nicht die Lösung.
    "Es gibt bestimmt zehn, 15 Prozent, die sind richtig gut qualifiziert"
    Wentzien: So deutlich wie Sie, sagt das niemand.
    Weise: Na ja, dafür bin ich sozusagen auf einer Amtschef-Ebene und meine Aussage ist ja begründet durch Fakten. Politisch kann man das immer noch anders wenden. Man kann ja auch Gesetze machen, man kann noch Einfluss darauf nehmen. Das ist also nur ein Teil der Antwort, wenn mich heute – wie Sie – jemand fragt, dann ist das die faktenbegründete Antwort. Oder anders herum gesagt: Ich wünsche mir ja nicht, dass Leute flüchten müssen. Ich finde es auch nicht gut, dass in der EU Deutschland im Stich gelassen wird und die größte Last trägt. Aber wenn sie denn da sind, dann müssen wir was daraus machen – so sind wir Deutsche – und dann machen wir was daraus. Und dann sage ich: Es gibt bestimmt zehn, 15 Prozent, die sind richtig gut qualifiziert, die kriegen wir relativ schnell, wenn sie das wollen, in Arbeit. Der Beleg wird ja jetzt erbracht. Dann gibt es viele, die werden nicht unseren Standards gerecht. Also, auf die Frage, "Haben Sie eine duale Berufsausbildung?", wird der Syrer in der Regel sagen: "Nein." Aber die haben Berufserfahrung, die haben gehandelt, die haben gearbeitet, die haben an den Autos geschraubt, die haben Häuser gebaut. Und die Kunst wird jetzt sein – vielleicht in dieser Not – in den Maßstäben anzuerkennen: Die haben Chancen, die haben Erfahrungen und die bringen wir in unser System hinein. Und jetzt ohne Zweifel, das dauert länger und kostet mehr, als mit den Menschen, die hier sind.
    Wentzien: Und würden Sie sagen, dass die Wirtschaft sich dann nochmal qualitativ anders, nicht nur artikulieren, sondern auch beteiligen könnte?
    Weise: Also, ich bin geradezu begeistert, wie die Wirtschaft – das sind ja die Personalchefs, das sind die Chefs von mittelständischen Unternehmen, das sind Handwerker – darauf reagiert. Ich habe eher ein Problem. Viele sagen: 'Ich würde gerne einen Flüchtling einstellen'. Viele sagen: 'Ich würde gerne mehr einstellen, wie finde ich die Menschen dazu und wie kann ich all diese Hürden im föderalen Staat überwinden?'. Denn das geht ja vom Bundesamt über die Bundesagentur bis zur Ausländerbehörde, und da wird es schwierig. Und da arbeite ich dran, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Ich höre von fast allen Verantwortlichen in der Wirtschaft, dass sie ihren Beitrag leisten wollen.
    "Die große Bewährung kommt ja noch auf uns zu"
    Wentzien: "Jahrhundertaufgabe" und "Krise", wir haben viele Worte jetzt auch gewogen. Herr Weise, wenn Sie – und das haben Sie deutlich gemacht – ins Gelingen verliebt sind und wenn Sie an Ihre Mitarbeiter denken, die jetzt in Griechenland sind und wenn Sie auf das ja gerade angelaufene Europa-Türkei-Flüchtlingsabkommen schauen, wird das gelingen? Wird das so ausgehen, dass es ein belastbares, politisch schwierig, aber ein belastbares Modell sein wird für Deutschland und für Europa?
    Weise: Erstens: Ich bin tatsächlich nicht der strategische Kopf, der all‘ diese Erkenntnisse, Merkmale so beurteilen kann, um ein sicheres Urteil daraus zu machen. Ich höre gerne anderen zu. Ich habe zum Beispiel die Herrn Schulte, von Griefahn und anderen, die strategisch denken können und höre denen gerne zu. Als Staatsbürger würde ich sagen: Die große Bewährung kommt ja noch auf uns zu. Wenn ich die Ungleichheit in der Welt sehe, dann kann ich mir vorstellen, dass sich 100 Millionen Menschen auf den Weg machen. Und diese Frage zu beantworten: Wie machen wir das, wie gehen wird damit um? Gehen wir in die Länder und organisieren uns dort mit den Themen "Asyl"? Das ist jetzt eine politische Frage. Für das, was meine Aufgabenstellung ist, würde ich sagen: Wenn wir jetzt mal sehen, in welchem zum Teil ja, ich sage mal, nicht akzeptablen Schwierigkeiten wir stehen, wenn wir das abarbeiten, dann werden wir dieser Aufgabe operativ in den nächsten Jahren gerecht. Und ich bewundere die Kolleginnen und Kollegen. Wir hatten eine Abfrage im Bundesamt: Wer wäre denn bereit, freiwillig nach Griechenland, in die Länder zu gehen? Da haben sich 30 Mal so viele gemeldet, wie wir eigentlich brauchen. Aber Sie hören daraus meine Begeisterung und die Gewissheit, dass das System jetzt erstmal funktioniert. Die Frage, zum Beispiel: Ist das menschlich anständig, was die Türkei macht? Ist das Verfahren bürokratisch, funktioniert das, was in Griechenland gemacht wird? Ich habe ja Erfahrung mit der griechischen Arbeitsmarktverwaltung. Da stellen sich viele Fragen, aber Sie hören bei mir schon raus, ich bin beseelt von Lösungen und nicht von Problemen.
    Wunsch nach neuer Perspektive für die Bundesagentur für Arbeit
    Wentzien: Wenn ich jetzt auf die Person Weise zum Schluss bitte noch mit Ihnen zusammen ganz kurz gucken kann. Sie sind Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit und der Vertrag läuft bis Ende nächsten Jahres. Das Ehrenamt, über das wir intensiv gesprochen haben, das Ehrenamt als Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist das Zweite. Es könnte ja auch sein, wenn Sie jetzt mal auf Ihre ganz persönliche Verwendung schauen, Herr Weise, dass Sie sagen: Ich will das dann weiter alles beobachten, aber irgendwann auch mal aus der Position des Abenteurers Ruheständler heraus. Ich kann mir das zwar nicht so richtig vorstellen, wenn ich Sie jetzt so höre und begleiten darf, aber wäre das so weit weg oder wäre das auch mal eine Perspektive?
    Weise: Also, mein Vertrag geht bis Mai nächsten Jahres bei der Bundesagentur, und das ist ja sozusagen der Quellcode, davon sind ja andere Dinge abhängig. In dem Bundesamt werde ich so lange bleiben, bis wir das Gefühl haben, wir können die Aufgabe bewältigen und diese erste Hürde, Voraussetzungen zu schaffen, dass meine Beschäftigten im Bundesamt Erfolg haben, muss gelöst sein. Und das ist meine innere Verpflichtung, das ist auch der Auftrag. Dann, muss ich wirklich sagen, ist es auch mal für die Bundesagentur und für andere besser, wieder einen neuen Impuls zu kriegen. Ich bin jetzt sehr, sehr lange im Amt, ich bin jetzt dann bei der Bundesagentur 15 Jahre im Amt – und machen wir uns nichts vor, man hat seinen Bias-Faktor, man hat seine Blickrichtung –, ich fände es gut, wenn dann mal jemand dran kommt, der für diese Bundesagentur eine Perspektive für die nächsten zehn Jahre entwickelt, für das Bundesamt unbedingt, vielleicht, ich sage mal, unbefangen lernen kann aus den erkannten Mängeln und das nicht so druckvoll machen muss, wie ich, um die Aufgabe zu erreichen. Und für die nächsten zehn Jahre wäre ich das nicht. Für die nächsten zehn Jahre wird man mich auf meinem Motorrad durch schöne deutsche Lande fahren sehen. Und ich werde immer aufmerksamer Beobachter sein, aber möchte tatsächlich auch ein bisschen von diesem Leben erfahren.
    Wentzien: Ich danke für die offenen Worte und ich wünsche alles Glück für die weitere Verwendung.
    Weise: Danke schön, Frau Wentzien.