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Frank Westerman
„Das Tal des Todes“

Tausende Menschen und Tiere sterben eines Nachts – ohne sichtbaren Grund. So geschah es 1986 in Kamerun. Während Wissenschaftler nach der Ursache suchten, erblühten Mythen und Erzählungen über das mysteriöse Massensterben. Der niederländische Autor Frank Westerman hat darüber ein Buch geschrieben.

Von Angela Gutzeit | 10.12.2018
    Buchcover Tal des Todes. Hintergrund der Nyos See in Kamerun.
    Unsichtbar und rätselhaft: Eine CO2-Wolke tötete 1986 Menschen und Tiere im Schlaf (Buchcover Ch. Links Verlag/Hintergrund picture alliance/Okapia)
    Am 25. August 1986 meldeten die britische BBC und die Nachrichtenagentur Reuters einen mysteriösen Vorfall aus Kamerun:
    "In einem abgelegenen Tal in Westkamerun sind aufgrund einer noch unbekannten Ursache 1.200 Menschen ums Leben gekommen. Die Tragödie ereignete sich in der Nacht vom 21. auf den 22. August im Nyos-Tal, rund 300 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Jaunde. Die meisten Opfer sind offensichtlich im Schlaf gestorben. Spuren von Verwüstungen an Häusern oder Pflanzen sind nicht zu erkennen. Jedoch sollen im Tal zahllose Tiere tot aufgefunden worden sein, darunter Rinder, Vögel und Insekten."
    Die Katastrophe als Stunde null
    Wissenschaftler aus etlichen Ländern, aus Frankreich, Großbritannien, den USA, Israel, Deutschland, der Schweiz packten ihre Koffer, um das merkwürdige Geschehen zu untersuchen. Offensichtlich war durch eine Explosion im Nyos-See eine CO2-Wolke freigesetzt worden. Hilfsgelder flossen in Millionenhöhe in die Regierungskasse Kameruns, um dort zu verschwinden. Militär sperrte auf Jahre das Tal ab.
    Einer, den dieser Vorfall nicht losgelassen hat, ist der niederländische Journalist und Autor Frank Westerman. "Noch nie hatte ich das Gefühl gehabt, eine Geschichte zöge mich so sehr an", schreibt er in seinem neuen Buch "Das Tal des Todes".
    1992 hatte sich der krisenerprobte Mann, der schon in Srebrenica als Berichterstatter an vorderster Front war, auf den Weg nach Kamerun gemacht. Er veröffentlichte zunächst Reportagen und Artikel über das große Sterben am Nyos-See.
    Frank Westerman schreibt: "Das gesamte Setting eignete sich auf fast unheimliche Art und Weise zur Erforschung des Entstehens und Aufblühens von Geschichten. Das Nyos-Tal ist ein übersichtliches und begrenztes Stück Erdoberfläche. Am 21. August 1986, bei Neumond, ereignete sich zwischen neun und zehn Uhr abends eine Explosion. Das ist meine Stunde null, der Urknall, mit dem alles beginnt."
    Eine Nummer kleiner bei der Wortwahl hätte es sicherlich auch getan, zumal der Autor sein Interesse auch noch mit der Schöpfungsgeschichte der Genesis in Verbindung bringt. Aber das Buch erweist sich als äußerst gut recherchierte Geschichte rund um den Vorfall am Nyos-See und die Erklärungen, die ihn mit der Zeit überwucherten.
    Wie Mythen entstehen
    Wie in einer Laborsituation nimmt Frank Westerman Ergebnisse und Erzählungen unter die Lupe, um einzelne Stränge freizulegen, die dem Buch die Struktur geben: "Mythentöter", "Mythenbringer" und "Mythenmacher", so sind die drei Teile überschrieben. Es geht um die Konkurrenz von Deutungen und darum, wer am Schluss die Oberhand behält, also auch um Macht.
    Da sind zum einen die Einheimischen, die "Mythenmacher", die im Aufwallen des Sees einen Racheakt eines ihrer Götter sehen oder auch ausländische Mächte eines Bombenversuchs verdächtigen. Da sind die christlichen Missionare verschiedener Couleur, die "Mythenbringer", die den Teufel im Spiel sehen. Mit ihrer Überlegenheit der Buchkultur und der Geschichten von Himmel und Hölle, Verdammnis und Erlösung sowie mit viel Geld und Eifer verdrängen sie die Mythen und Götter der Einheimischen.
    Und da sind die Wissenschaftler, die "Mythentöter", die im Wettlauf um schlüssige Ergebnisse, sich weder für die Menschen noch für Religionen und ihre Geschichten interessieren, sondern für die schnelle Veröffentlichung ihrer Erkenntnisse.
    Einer von ihnen war der französische Vulkanologe Haroun Tazieff, über den Frank Westerman schreibt:
    "Schon gleich in seinem Debüt präsentiert sich Haroun Tazieff als unerschrockener Verteidiger der Vernunft. Wie der Heilige Georg Drachen zu Leibe rückt, so bekämpft er den Glauben des Homo sapiens an Fabeln und Erzählungen, der ihn fest im Griff der Rückständigkeit hält. Wissen darüber, wie die Natur funktioniert, ist das Gegenmittel, mit dem Haroun Tazieff die Weltbevölkerung gern impfen würde."
    Widersprüchlichkeit der Protagonisten
    Diese Konfrontation verschiedener Geschichten und Deutungen in Frank Westermans Buch hätte schnell in die falsche Richtung gehen können, im Sinne von: die armen Afrikaner und die bösen Weißen aus Europa und den USA.
    Aber zum einen wertet Frank Westerman weniger als dass er die Menschen oft selbst sprechen lässt. Er hat sie alle aufgesucht – afrikanische und ausländische Priester, Forscher, Dorfbewohner, Stammesführer, Intellektuelle und Schriftsteller Kameruns.
    Zum anderen – und das ist das Wesentliche – präsentiert Frank Westerman die Geschichten und Taten seiner Protagonisten nie eindimensional, sondern in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Die weißen Missionare verdrängten zwar die Götter der Schwarzen. Sie waren aber bei der Nyos-Katastrophe die ersten und wichtigsten Helfer in der Not und spendeten Trost mit ihrer christlichen Heilsgeschichte.
    Die Wissenschaftler ignorierten zwar das fragile Sozialgefüge vor Ort, präsentierten jedoch wichtige Fakten. Und die Kameruner?
    Im Buch heißt es: "In all ihrem Grauen war die Nyos-Tragödie zu einer landesweiten Geschichte herangewachsen – und spaltete damit die Nation."
    Lebendige Erzählweise
    Fakten vermengten sich mit Fiktionen in den Auseinandersetzungen zwischen dem englischsprachigen und dem französischsprachigen Landesteil, zwischen der Regierung und der Bevölkerung Kameruns und zwischen den verschiedenen Stämmen im Nyos-Tal.
    Es ist nicht Frank Westermans Anliegen, Partei zu ergreifen. Er möchte erklärtermaßen der Entstehung von Mythen auf die Spur kommen. Dafür, so der Einwand, ist der Untersuchungszeitraum sicherlich viel zu kurz.
    Aber Frank Westerman gelingt es in seinem Buch in lebendiger und unterhaltsamer Erzählweise zu zeigen, wie in unterschiedlichen Deutungen einer Naturkatastrophe Kulturen und Ethnien aufeinanderprallen, und die stärkere Seite die Erzählungen und damit auch das soziale Gefüge der schwächeren zersetzt.
    Frank Westerman: "Das Tal des Todes. Eine Katastrophe und ihre Erfindung",
    aus dem Niederländischen von Thomas Hauth und Verena Kiefer,
    Ch. Links Verlag, 328 Seiten, 22 Euro.