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Frankreich
Ausnahmezustand stößt auch auf Widerspruch

Am 13. November 2015, dem Tag der Attentate von Paris, verkündete der französische Präsident François Hollande den Ausnahmezustand. Er wurde bislang nicht ausgesetzt und die Regierung will diesen Zustand um drei weitere Monate verlängern. Seitdem gebe es 40 Beschwerden von Bürgern, die Opfer willkürlicher Polizeiaktionen wurden, sagen Kritiker.

Von Suzanne Krause | 05.02.2016
    Demonstranten halten ein Banner mit dem Schriftzug "Für das Ende des Ausnahmezustands und gegen den Verlust von Nationalität" während einer Demonstration am 30.01.2016 in Marseille.
    Demonstranten in Marseille halten am 30.01.2016 ein Banner hoch. (AFP / BORIS HORVAT )
    In Belleville, einem traditionellen Einwandererviertel im nördlichen Paris, liegen einige Tatorte der blutigen Anschläge vom 13. November. Patrouillierende Soldaten sind heute in dieser Gegend nicht auf der Straße zu sehen, aber die Normalität ist trotzdem noch nicht ins Viertel zurückgekehrt. Gerade hat die Regierung angekündigt, den Ausnahmezustand um drei Monate verlängern zu wollen. Die Meinung der Passanten darüber ist geteilt.
    "Ich bin für eine Verlängerung, damit werden wir und unsere Kinder doch beschützt. Die Anschläge betreffen uns doch alle."
    "Ich bin dagegen. Denn der Ausnahmezustand verleiht der Regierung mehr Macht und die kann missbraucht werden. Ohne dass sich jemand dagegen auflehnen kann."
    "Der Ausnahmezustand stört mich nicht; ein ruhiges Gewissen ist ein gutes Ruhekissen. Und meiner Meinung nach gibt es in Frankreich mehr Freiheit als nötig."
    "Mir bereitet die aktuelle harte Linie der Regierung Sorgen. Sicher, nach den Attentaten war das gerechtfertigt. Aber seither hat es keine neuen Anschläge mehr gegeben. Und mir scheint, dass uns die Maßnahmen im Rahmen des Ausnahmezustands in gewissem Sinne entmündigen. Nun werden wir unsere Rechte verteidigen müssen."
    Laut einer aktuellen Meinungsumfrage sind vier von fünf Franzosen für die Verlängerung des Ausnahmezustands. Gleichzeitig trommelt eine breite Bewegung für dessen Beendigung: Am vergangenen Wochenende veranstalteten Gewerkschaften und Menschenrechtsvereine in Paris und 70 Städten in der Provinz Protestmärsche. Am Sonntag lädt die populäre Online-Zeitung "Mediapart" zu einer kritischen Veranstaltung in Grenoble. Dutzende von Vereinen, Gewerkschaften, Juristen, Soziologen, Historiker und einige Politiker angesagt – allesamt Gegner eines verlängerten Ausnahmezustands.
    Beschwerden von Bürgern
    Seit Ende November habe er gut 40 Beschwerden von Bürgern erhalten, die Opfer willkürlicher Polizeiaktionen wurden, resümiert Jacques Toubon. Unter dem Gaullisten Chirac war Toubon Justizminister, seit 2014 verteidigt er als eine Art Ombudsmann die Rechte der Bürger. Toubon warnt dringend davor, den Ausnahmezustand zu verlängern – und damit die Ausnahme zum Normalzustand zu machen.
    Die Menschenrechts-Organisation Amnesty International will die Gefahren dieser Maßnahmen anhand von konkreten Fällen verdeutlichen. Beispiel Claire, eine junge Frau aus Westfrankreich. Sie stand wochenlang unter Hausarrest, weil der Geheimdienst ihr unterstellte, radikalen Islamisten nahe zu stehen, einen Ganzkörperschleier zu tragen und mit einem potenziellen Terroristen verheiratet zu sein. Marco Perolini, Forscher bei der französischen Sektion von Amnesty International, nennt diese Anschuldigungen aus der Luft gegriffen.
    "Bei der richterlichen Anhörung musste Claire Schnappschüsse von sich vorlegen, um zu zeigen, dass sie auch im öffentlichen Raum nie verschleiert aufgetreten ist. Stellen Sie sich das vor: Da müssen Menschen, die keine Straftat begangen haben, denen vorgeworfen wird, ihre Religion eventuell zu radikal zu leben, selbst Beweise für ihre Unschuld beibringen. Das verstößt doch komplett gegen die Regeln des Rechtsstaats."
    60 Fälle polizeilicher und behördlicher Willkür dokumentiert Amnesty International in einem gestern veröffentlichten Bericht. Die Zahlen des Innenministeriums geben den Kritikern weitere Munition: seit Mitte November erfolgten 3.242 Hausdurchsuchungen in ganz Frankreich - doch lediglich in vier Fällen führte dies im Anschluss zu einem Ermittlungsverfahren wegen Terrorismusverdacht.
    Claire und ihre kleine Tochter, die dabei war, als die Polizei bei der Hausdurchsuchung die Wohnungstür aufgebrochen hat, sind traumatisiert. Nun fürchtet sich die junge Frau neben neuen terroristischen Anschlägen auch vor Polizei und Justizbehörden in ihrer Heimat.