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Frankreich
Die Eroberung der Seelen

Das laizistische Frankreich ist Missionsgebiet. So jedenfalls sehen es evangelikale Gruppen. Sie werben aktiv um neue Anhänger - und sind erfolgreich. Alle zehn Tage wird eine neue Gemeinde gegründet.

Von Bettina Kaps | 18.12.2017
    CNEF-Vizepräsident Daniel Liechti begrüßt Protestanten zu einer Fortbildung des Dachverbands der Evangelikalen Kirchen in Frankreich (CNEF) in Lyon.
    CNEF-Vizepräsident Daniel Liechti begrüßt Protestanten zu einer Fortbildung des Dachverbands der Evangelikalen Kirchen in Frankreich (CNEF) in Lyon. (Deutschlandradio / Bettina Kaps)
    Ein fensterloser Raum im Neonlicht. Das Klavier ist zugedeckt, das Schlagzeug ins Eck gerückt. In der evangelikalen Kirche der Chinesen in Paris wird an diesem Samstag nicht gesungen, sondern intensiv studiert: Der Dachverband der Evangelikalen Kirchen in Frankreich CNEF veranstaltet eine Fortbildung zum Thema: "Pertinente Gemeinden in unsere Gesellschaft einpflanzen", gemeint sind also passende, dienliche Gemeinden. CNEF-Vizepräsident Daniel Liechti begrüßt über 80 Protestanten, sie sind aus ganz Frankreich angereist. Wie viele Anwesende hält auch Timothée Neu Stift und Heft in der Hand, macht eifrig Notizen. Der 27-Jährige hat ein konkretes Projekt.
    "Ich will eine neue Gemeinde in Reims aufbauen. Für die 180.000 Einwohner der Stadt gibt es bisher nicht einmal zehn evangelikale Kirchen. Ich will das Evangelium dort sichtbarer machen."
    Biblische Spiritualität im laizistischen Frankreich
    Timothée Neu, von Beruf Erzieher, studiert derzeit noch am Biblischen Institut von Genf. Zugleich wirkt er als Praktikant bei einer Gemeindegründung in einem Pariser Vorort mit. Der junge Mann gehört der Kirche "France pour Christ" an. Sein Gemeindebund hat sich vorgenommen, im Nordosten Frankreichs zu missionieren. Nächsten Sommer will Neu mit seiner zukünftigen Frau nach Reims umziehen.
    "Ich habe vor, mich dort in Vereinen und in der Sozialarbeit engagieren, um Leute kennen zu lernen. Dann will ich mit dem Evangelium auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen. Ich möchte ihnen vorschlagen, gemeinsam die Bibel zu öffnen, um zu sehen, welche Antworten sie uns anbieten kann."
    Im Mittelpunkt des evangelikalen Glaubens steht die ganz persönliche Beziehung des Einzelnen zu Gott.
    Der junge Mann ist überzeugt: Selbst im laizistischen Frankreich, wo sich fast zwei Drittel aller Befragten als nicht-religiös oder atheistisch bezeichnen, gebe es großes Bedürfnis nach Spiritualität.
    "Ich habe gemerkt: Wenn Leute, die nicht praktizieren, Eltern werden, fühlen sie sich oft hilflos. Sie wollen ihren Kindern etwas vermitteln. So erwacht bei vielen das Interesse an der Kirche und an der Bibel. An solche Menschen wollen wir uns verstärkt richten."
    Daniel Liechti ist im Dachverband CNEF für Kirchengründungen verantwortlich. Der gebürtige Schweizer hat das Ziel ausgegeben: Eine Gemeinde für 10.000 Einwohner. Derzeit gebe es in Frankreich gerade mal eine Gemeinde für 30.000 Einwohner, sagt er.
    "Wir halten es für einen spirituellen Skandal, dass so viele Menschen keine evangelikale Kirche in ihrer Nähe haben. Viele wissen nicht einmal, dass es uns gibt. Wir streben kein Monopol an, aber wir wollen der gesamten Bevölkerung mit dem Evangelium zu Diensten sein."
    Alle zehn Tage wird eine neue Gemeinde gegründet
    Der Dachverband CNEF hat einen Videoclip mit dynamischer Musik auf seine Webseite gestellt.
    Begeisterte junge Menschen – allesamt Männer – stehen vor Landkarten und Informationstafeln. Es sieht aus, als würden sie generalstabsmäßig die Eroberung der Seelen planen.
    Der Einsatz scheint erfolgreich zu sein. Tatsächlich hat sich die Zahl der Freikirchen in Frankreich deutlich vermehrt. Die Bewegung hat allerdings auch sehr klein angefangen. So gab es in den 1950er Jahren in Frankreich gerade einmal 50.000 Evangelikale. Inzwischen seien sie 650.000, sagt Daniel Liechti. Alle zehn Tage werde eine neue Gemeinde gegründet, aber bei der Größe des Lands sei das viel zu wenig. Liechti erklärt, wie der CNEF die Missionare unterstützt.
    "Unser Motto 'Eine Kirche für 10.000 Einwohner' bedeutet: Wir sorgen für die nötigen Mittel. Wir stellen Geld bereit, um Tempel und Säle zu eröffnen. Wir gründen Schulen, um Theologen auszubilden. Wir kontaktieren die Behörden und sagen ihnen: Es ist nicht in Ordnung, dass es in dieser oder jener Großstadt fast keine Gemeinden gibt. Dieses Engagement können wir leisten. Aber das Eigentliche, was dazu führt, dass ein Mensch den Glauben entdeckt und annimmt, ist rein persönlich. Das liegt allein in Gottes Hand."
    Keine Konkurrenz für die etablierten Kirchen
    Bevor ein Kultraum eröffnet werden kann, muss das Rathaus die Genehmigung erteilen. Die meisten Bürgermeister reagierten positiv, zumal evangelikale Freikirchen die gesetzlich vorgeschriebene Trennung von Kirche und Staat begrüßen und keinerlei finanzielle Hilfen verlangen, sagt der Kirchenfunktionär.
    Positiv aufgenommen wurde auch Tim Pomier. Der 29-Jährige, ein freiberuflicher Grafiker, hat beim CNEF die zweijährige Ausbildung zum Gemeindegründer absolviert, bevor er mit Frau und drei kleinen Kindern nach Lyon gezogen ist. Dort hat er Job und religiöses Engagement auf ungewöhnliche Weise miteinander verknüpft.
    Tim Pomier mit seiner Frau. Er hat beim CNEF die Ausbildung zum Gemeindegründer absolviert.
    Tim Pomier mit seiner Frau. Er hat beim CNEF die Ausbildung zum Gemeindegründer absolviert. (Deutschlandradio / Bettina Kaps)
    "Wir haben einen Raum für Co-Working angemietet, der zugleich als Kirche dient. Die ganze Woche über ist es ein Open-Space, wo Selbstständige oder Start-up Unternehmer einen Büroplatz mieten. Am Wochenende klappen wir die Schreibtische hoch und erhalten so einen großen Raum für unsere Gottesdienste. Diese Kombination passt gut zu unseren Werten: Die Kirche soll ja ein lebendiger Ort sein. Zugleich verringert es die Miete. Wir sind natürlich ganz transparent: Alle, die zum Arbeiten her kommen, werden informiert, dass der Raum auch als Kirche genutzt wird."
    Das Lokal liegt in der historischen Altstadt, einem Ausgehviertel. Es ist von Kneipen, aber auch von drei alten katholischen und einer protestantischen Kirche umgeben. Pomier erzählt, dass er sich bei allen Pfarrern vorgestellt und ihnen versichert habe, dass er sich nicht als Konkurrenz verstehe und ausschließlich Bewohner aus seiner Nachbarschaft ansprechen wolle. Sie hätten alle brüderlich reagiert.
    Seit gut einem Jahr lädt der junge Pastor nun jeden Sonntag Nachmittag zum Gottesdienst mit anschließendem Umtrunk ein. In Anspielung auf das Viertel hat er die Zelebration "Happy hour" genannt. Seine Initiative kommt offenbar gut an.
    Blick auf die von der CNEF genutzten Räumlichkeiten in der Altstadt von Lyon.
    Blick auf die von der CNEF genutzten Räumlichkeiten in der Altstadt von Lyon. (Deutschlandradio / Bettina Kaps)
    "Jeden Sonntag versammeln sich rund 30 Gläubige, Tendenz steigend. Aber nur 15 gehören zum harten Kern der Gemeinde. Unser Saal ist immer voll. Wir wollen auf keinen Fall zu einer großen Kirche anwachsen, sondern viele kleine Nachbarschaftsgemeinden gründen, damit stets die Leute aus ein und demselben Viertel in Gemeinschaft leben. Das ist unser Ziel."