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Frankreich
"Die Gefängnisse sind tickende Zeitbomben"

Drei Männer in einer Neun-Quadratmeter-Zelle, Ratten auf dem Hof, bröckelnder Putz: Ein solcher Haftalltag sei menschenunwürdig, sagen Frankreichs Gefängnis-Seelsorger und schlagen Alarm. Der Gesellschaft werde vorgegaukelt, dass sich die Probleme einfach wegschließen lassen.

Von Margit Hillmann | 24.07.2017
    Fehlende Privatssphäre und Enge: Frankreichs Seelsorger kritisieren Zustände, wie sie in diesem Gefängnis bei Marseille herrschen
    Fehlende Privatssphäre und Enge: Frankreichs Seelsorger kritisieren Zustände wie diese, aufgenommen in einem Gefängnis bei Marseille (picture-alliance / dpa / Speich Frédéric)
    Die Presse ist in Frankreichs Problemgefängnissen kein gern gesehener Gast, Akkreditierungen sind schwer zu bekommen. Doch im Internet kursieren mittlerweile unzählige Videos über die katastrophalen Zustände im französischen Strafvollzug, von Häftlingen mit eingeschmuggelten Handys heimlich aufgenommen.
    Wacklige Bilder von Ratten, die sich tagsüber zu Dutzenden im Gefängnishof tummeln, während die Häftlinge ihre Runden drehen. Und immer wieder Innenansichten von heruntergekommenen Gebäuden und überbelegten Zellen.
    Zum Beispiel aus der Haftanstalt in Nanterre bei Paris. Zu sehen ist eine typische Neun-Quadratmeter-Zelle, die sich drei junge Männer teilen: zwei Etagenbetten und eine Matratze am Boden; in der anderen Raumhälfte stehen Tüten und Kartons, ein Tisch mit improvisierter Kochgelegenheit und - direkt daneben, ohne Abtrennung - eine Toilette. Einer der jungen Männer kommentiert die Bilder.
    "Nicht auszuhalten! Wir werden hier gestapelt, treten uns gegenseitig auf die Füße. Ich gehöre nicht zu denen, die jammern, weil sie im Gefängnis sitzen. Aber wir sind trotzdem Menschen. Unter solchen Bedingungen leben - das ist nicht normal. Wir sind hier schließlich in Frankreich, nicht in Guantanamo."
    Brice Deymié muss sich keine Videos anschauen. Der 55-jährige Pastor ist Leiter der protestantischen Gefängnisseelsorge. Er weiß, wie der Knastalltag in Frankreich aussieht. Dass er besonders hart ist in den chronisch überfüllten Maisons d'arrêts - Gefängnisse für U-Haft und kurze Haftstrafen bis zu zwei Jahren, wo rund zwei Drittel der französischen Häftlinge ihre Strafe absitzen. Brice Deymié: "Dort gibt es viel zu viele Häftlinge. Die Maisons d'arrêts sind tickende Zeitbomben. Und die Situation degradiert sich von Tag zu Tag ein bisschen mehr."
    In Frankreich steigen die Häftlingszahlen
    In der EU nimmt die Gesamtzahl der Häftlinge ab, in Frankreich steigt sie kontinuierlich. In den Maisons d'arrêts im Großraum Paris kommen auf 100 reguläre Plätze durchschnittlich 164 Häftlinge - Stand 1. Juni. Akuter Personalmangel ist inzwischen die Regel, genauso wie die schlechte medizinische Versorgung und fehlende Beschäftigungsangebote für die Häftlinge. Sie bleiben häufig 22 Stunden pro Tag in den engen Zellen, verlassen sie nur für den gesetzlich vorgeschrieben Spaziergang im Gefängnishof. Extrem belastende Haftbedingungen, die die Arbeit der Seelsorger wichtiger - aber auch komplizierter machen. Brice Deymié:
    "Alle Konfessionen zusammengenommen bitten zehn bis 15 Prozent der Häftlinge um einen Seelsorger. Anfangs ist es nicht zwangsläufig ein religiöses oder spirituelles Bedürfnis, sondern das Bedürfnis nach Menschlichkeit. Mit jemanden sprechen können, der ihnen zuhört - ohne Hintergedanken, ohne Gegenleistung. Das ist im Gefängnis sehr rar, wird von den Häftlingen sehr geschätzt. Weil sie in ihren Zellen aber nie allein sind, ist selbst das schwierig. Wir sind permanent gezwungen zu improvisieren, gehen mit ihnen in die Besucherräume oder benutzen die Sicherheitsschleusen, um unter vier Augen reden zu können."
    Und auf den Gefängnishöfen tummeln sich die Ratten
    Auf den Gefängnishöfen tummeln sich die Ratten. (picture-alliance / dpa / Speich Frédéric)
    Rund 1.450 Seelsorger arbeiten in Frankreichs Gefängnissen. Größtenteils vom Staat bezahlt, aber auch ehrenamtlich. Etwa die Hälfte sind katholische Geistliche, Pastoren und Imame machen jeweils rund ein Viertel aus, außerdem gibt es jüdische und christlich-orthodoxe Seelsorger in Frankreichs Haftanstalten. Doch wenn die Häftlinge Beistand brauchen, spielt die Konfession des Seelsorgers häufig eine untergeordnete Rolle, sagt Pastor Deymié. Die privilegierte Position des Seelsorgers - sie arbeiten autonom, haben aber gleichzeitig das Ohr der Gefängnisleitung - ermögliche ihnen auch, sich als Vermittler für Erleichterungen und Verbesserungen im Knastalltag einzusetzen.
    Und die Liste der Missstände in Frankreichs Gefängnisse ist lang: Sie reicht von den desolaten hygienischen Konditionen, dem massiven Einsatz von Psychopharmaka bis hin zu den brutalen Disziplinierungsmethoden für widerspenstige Häftlinge: die strenge Isolationshaft im berüchtigten Mitard. Ein Gefängnis im Gefängnis, zu dem die Seelsorger wegen der besonders hohen Suizidgefahr Zugang haben.
    "Die Häftlinge dürfen seit 2009 nur noch maximal 30 Tage dort eingesperrt werden, haben jetzt in der Zelle auch ein Radio und dürfen lesen. Es gibt es einen Stuhl und einen kleinen Tisch. Das Liegen ist tagsüber verboten, das Bett wird herausgenommen. Keinen Kontakt nach außen, rund um die Uhr isoliert. Das ist wirklich sehr hart, eine rüde Strafe."
    Kampf gegen Windmühlenflügel
    Die Häftlinge spirituell begleiten, sie mit sich und der Welt versöhnen, damit sie nach der Haft ein anderes Leben beginnen können - darin sieht der Pastor seine eigentliche Aufgabe. Doch in den Maisons d'arrêts ist die Seelsorge ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Die Wegschließanstalten produzieren zu viel Misere, zu viel Gewalt und - beklagt der Gefängnisseelsorger - besonders hohe Rückfallquoten.
    "Es müsste sehr viel mehr Personal eingestellt werden, um die Häftlinge zu betreuen und sie auf ihre Entlassung vorzubereiten. Aber in Frankreich dominiert der Ruf nach mehr Sicherheit für die Gesellschaft. Viele glauben an das Gefängnis als einen undurchlässigen Schutzwall, der ihnen die Kriminellen vom Hals hält. Was hinter den Gittern geschieht, kümmert sie wenig. Sie sind bereit, die Zukunft gewisser Menschen oder humanistische Prinzipien ihrem Bedürfnis nach Sicherheit zu opfern. Natürlich ist das eine Illusion. Der Gesellschaft wird vorgegaukelt, dass sich die Probleme einfach wegschließen lassen, dass die dicken Gefängnismauern die Gesellschaft schützen."
    Brice Deymié wirft Frankreichs Politikern vor, dringend notwendige Reformen in der Gefängnispolitik seit etlichen Jahren zu verschleppen. Statt nach menschenwürdigen und innovativen Lösungen zu suchen, hätten sie sich mit populistischen Diskursen und kurzfristigen Manövern aus der Affäre gezogen.
    Was heißt Bestrafen im 21. Jahrhundert?
    "Die Regierungspolitiker - ob aus dem rechten oder linken Spektrum - kommen alle mit dem gleichen Rezept: Sie wollen neue Gefängnisse bauen, um zusätzliche Plätze schaffen. Aber das dauert mehrere Jahre, und wir brauchen jetzt Lösungen."
    Vor einigen Wochen haben die Leiter der Gefängnisseelsorge aller Konfessionen entschieden, sich in die Politik einzumischen. Sie haben zum ersten Mal einen gemeinsam unterzeichneten Aufruf veröffentlicht. Eine Aufforderung an Frankreichs neue Regierung stärker auf alternative Strafen zu setzen, und so die Zahl der Häftlinge in den überfüllten Gefängnissen um mindestens 15.000 zu reduzieren.
    "Wir bräuchten eine breite öffentliche Debatte: Was heißt Bestrafen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, was ist das Ziel der Bestrafung? Ist die Gefängnisstrafe das Maß aller Dinge oder gibt es andere Möglichkeiten? Wir hoffen, dass Frankreichs neuer Präsident und seine Regierung bereit sind, sich auf eine differenzierte Debatte einzulassen."
    Bis jetzt ein frommer Wunsch: Abgesehen von dem Versprechen, 15.000 neue Gefängnisplätze zu schaffen, hat der neue Staatspräsident Emmanuel Macron den Seelsorgern nichts zugesagt.