Donnerstag, 18. April 2024

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Frankreich einen Monat nach dem Fall Théo
Proteste gegen Polizeigewalt gehen weiter

Auch einen Monat nach Beginn der Proteste gegen die Polizeigewalt in Frankreich kehrt keine Ruhe ein. Immer wieder gehen Schüler auf die Straße um gegen die ihrer Ansicht nach willkürlichen Maßnahmen der Polizei zu demonstrieren. Die Lehrergewerkschaft kritisiert, dass ein Klima der Gewalt herrsche. Was bleibt, ist vor allem Ratlosigkeit.

Von Anne Raith | 01.03.2017
    Mit großen grünen Mülltonnen haben die Schüler des Lycée Victor Hugo im dritten Arrondissement von Paris den Eingang zur Schule blockiert. "Gerechtigkeit" haben sie auf eine von ihnen gesprüht. Auf dem Bettlaken, das sie als Protestbanner aufgespannt haben, ist in roten Lettern "Flics armés, jeunesse blessée" zu lesen: Bewaffnete Polizisten, verletzte Jugend.
    "Pour Théo." Für Théo seien sie hier, sagt der 16-jährige Baptiste schüchtern. Aber auch, weil sie selbst in irgendeiner Form ihre Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben. Jonathan zum Beispiel, auch er 16, und weniger schüchtern:
    "Die Polizisten sind doch Bastarde. Die respektieren uns nicht, sie respektieren Schwarze oder Fremde nicht. Ich wurde auch schon beschimpft und kontrolliert, ohne Grund."
    Situation in den Vorstädten eskaliert immer wieder
    "Die benehmen sich wie Cowboys", empört sich ein anderer 16-Jähriger, der seinen Namen nicht nennen möchte. Und mit "die" meint er die CRS, die Compagnies Républicaines de Sécurité, die Sicherheitskräfte der nationalen Polizei, die oft bei Demonstrationen zum Einsatz kommen. Hier sind auch jene Jugendlichen mit der Polizei in Kontakt gekommen, die nicht unter Diskriminierung leiden. Mathéo zum Beispiel, der an diesem Morgen auch bei der Blockade seiner Schule mitmacht:
    "Bei den Demonstrationen gegen die Reform des Arbeitsgesetzes im vergangenen Jahr waren wir von allen Seiten von CRS-Leuten umgeben. Und jetzt, im Ausnahmezustand, reicht das kleinste bisschen, damit die Situation eskaliert."
    Und sie eskaliert immer wieder in Paris, vor allem aber in den Vorstädten, seit die Polizei dort einen jungen Mann namens Théo so brutal behandelt haben soll, dass der mehrere Tage im Krankenhaus verbringen musste. Auch die Ermittlungen wegen des Verdachts auf Untreue und Betrugs gegen seine Familie haben den Protesten keinen Abbruch getan. Es geht um Polizeikontrollen, die für viele Bewohner in den Vorstädten zum Alltag gehören. Die Polizei wiederum wehrt sich. Anonymisiert gibt ein Polizist dem Fernsehsender BFM.TV ein Interview:
    "Der Großteil der Polizisten macht seine Arbeit gewissenhaft. Wir machen das ja, weil wir unsere Miete zahlen müssen und nicht, um die Leute zu ärgern. In Seine-Saint-Denis leben Menschen aus fast 200 Nationen, wenn wir hier mehr Migranten kontrollieren, hat das nichts mit Rassismus zu tun."
    Identitätskontrollen mit Videokamera
    Doch eine deutsch-französische Vergleichsstudie kommt zu einem anderen Ergebnis: dass die Kontrollen sehr wohl oft genug ethnisch motiviert sind. Kontrollen, die nicht nur Bewohner in den Vorstädten treffen, sondern auch Politikerinnen wie die Senatorin Esther Benbassa:
    "Ich habe ihnen meine Karte gezeigt und sie haben mich gefragt: Sie sind wirklich Senatorin? Das war eine große Demütigung. Als würde ich betrügen."
    Um diese Art der Demütigung zu verhindern oder zumindest zu mindern, müssen Identitätskontrollen ab heute in 23 sogenannten "Zonen von besonderer Sicherheit" auf Video aufgenommen werden. Es ist ein Test, der erst einmal höchstens ein Jahr laufen soll. Eine andere Idee ist, den Kontrollierten zu bescheinigen, dass sie kontrolliert wurden, damit es nicht fünfmal an einem Abend passiert. Ein Vorschlag, dem etwa der Sozialist Benoît Hamon etwas abgewinnen kann. Denn schon längst sind die Proteste Thema im Präsidentschaftswahlkampf geworden.
    Nach den Protesten herrscht Ratlosigkeit
    Mehr Polizei versprechen fast alle Kandidaten. Doch während der Sozialist Hamon und der parteiunabhängige Kandidat Macron auf eine Polizei der Nähe setzen, die den Bewohnern der Viertel vertraut ist, plädieren die Kandidaten rechts der Mitte für mehr Härte in den "rechtlosen Zonen". "Nulltoleranz" ist ein Schlagwort der rechtsextremen Kandidatin Marine Le Pen. Mit dem sie im Wahlkampf punkten kann: Einer wissenschaftlichen Untersuchung zufolge wählt über die Hälfte der Polizisten und Armeeangehörigen Front National.
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    Mit Mülltonnen haben die Schüler den Zugang blockiert. (Deutschlandradio / Anne Raith)
    Wählen dürfen die jungen Leute, die seit einigen Tagen immer wieder ihre Schulen blockieren, nicht. Ihnen bleibt der Protest, der auch an diesem Tag ausartet. Es brennen Mülltonnen, eine Lehrerin wird leicht verletzt, eine Supermarktlieferung geplündert. Die Bildungsministerin und die Lehrergewerkschaft verurteilen dieses "Klima der Gewalt" und auch der ein oder andere Schüler fragt sich am Ende dieses Tages, ob das der richtige Weg ist. Auch bei jenen, die wählen dürfen und sich in den vergangenen vier Wochen an Protesten gegen Polizeigewalt beteiligt haben, herrscht Ratlosigkeit. Bei Alima zum Beispiel.
    "Non. Pour le moment, je cherche encore." Sie habe keine Ahnung, wen sie wählen solle. Sie fühle sich von niemandem so richtig repräsentiert.