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Frankreich
Sexueller Missbrauch erschüttert die Kirche

Erst jetzt kommt das Thema sexueller Missbrauch auf die Agenda der katholischen Kirche in Frankreich. Opfer organisieren sich, täglich mehren sich Enthüllungen und Anklagen. Besonders pikant: Auch die traditionalistische Piusbruderschaft steht unter Verdacht.

Von Bettina Kaps | 28.04.2016
    ©PHOTOPQR/LE PARISIEN ; Cardinal Barbarin dans la basilique d'Argenteuil dimanche 27 mars 2016 pour la messe célébrant Pâques (Capture de ma vidéo) ©A LADET - ARGENTEUIL 27/03/2016 Easter mass at Argenteuil Basilica celebrated by CardinalBarbarin. -Barbarin, quoting PopeFrancis, said on March 23 he was obliged to assume all the evil committed by some priests and personally apologise for the damage they have caused by sexually abusing children.
    Kardinal Barbarin, Bischof von Lyon, wusste seit 2007 über einen Missbrauchsfall Bescheid. Die Justiz ermittelt gegen den Pfarrer und den Kardinal – eine Premiere in Frankreich (picture alliance / dpa / Aurélie Ladet)
    Aymeri Suarez-Pazos weiß, dass er schwere Vorwürfe formuliert, aber der Vorsitzende des französischen Selbsthilfevereins AVREF ist sich seiner Sache absolut sicher. Übersetzt bedeutet das Kürzel AVREF "Hilfe für Missbrauch-Opfer in religiösen Bewegungen und für ihre Familien".
    "Wir wissen, dass es viele Bischöfe gibt, die pädophile Pfarrer schützen. Und ausgerechnet auch jene Bischöfe, die sich neuerdings als Weltmeister des Bedauerns und des Mitleids mit den Opfern darstellen. Überall können neue Skandale aufbrechen. Es ist durchaus möglich, dass jetzt viele Opfer Klage einreichen werden."
    Suarez-Pazos stützt sich auf Informationen von Betroffenen, die sich an seinen Selbsthilfeverein wenden: Dort haben sich Menschen zusammengeschlossen, die persönlich oder deren Kinder spirituellen oder sexuellen Missbrauch in katholischen Gemeinschaften erlitten haben. Er selbst stand 14 Jahre lang unter dem beherrschenden Einfluss des Opus Dei, war dort so genannter Numerarier. Die Mitglieder von AVREF unterstützen sich nicht nur gegenseitig. Sie stellen auch Schwarzbücher gegen Gemeinschaften zusammen, die sie für gefährlich halten. Eine davon ist die Pius-Bruderschaft. Die traditionalistische Vereinigung um den inzwischen verstorbenen Erzbischof Marcel Lefebvre widersetzt sich den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils und hält bis heute etwa am Alten Ritus der Messe fest.
    Ein Mann fühlt sich inzwischen so gefestigt, dass er seinen Fall publik machen will. Als Kind habe er die Schulen und Jugendgruppen der Pius-Bruderschaft besucht, sagt der 39-jährige Ingenieur. (Anmerkung der Redaktion: wir haben den Gesprächspartner auf seinen Wunsch nachtäglich anonymisiert.)
    "Ich kann über spirituellen oder moralischen Missbrauch berichten, bin aber auch Opfer von Pädophilie geworden. Es war bei den Pfadfindern. Der Pfarrer meiner Gruppe hat mich unsittlich berührt und einmal sogar eine Vergewaltigung versucht. Ich war 11 und 12 Jahre alt, der Missbrauch hat sich über ein Jahr lang hingezogen."
    Im Jahr 2005 entdeckte er dann auf dem Prospekt einer Pfadfindergruppe das Foto seines Peinigers. Daraufhin nahm er seinen Mut zusammen, suchte die Verantwortlichen der Piusbruderschaft auf, forderte Rechenschaft.
    "Sie haben mir nur versprochen, dass der Pfarrer in Zukunft nicht mehr mit Kindern in Kontakt käme, haben eingeräumt, dass sie Fehler gemacht hätten und so etwas nicht mehr vorkommen würde."
    Aymeri Suarez-Pazos betont, dass der Verein AVREF weitere Zeugenaussagen über Missbrauchsfällen in den Schulen der Piusbruderschaft gesammelt habe. Gerade die Piusbrüder sind kirchenpolitisch besonders brisant. Papst Benedikt XVI. hatte 2009 die Exkommunikation von vier Bischöfen der Pius-Brüderschaft aufgehoben und strebte eine Versöhnung mit den Abtrünnigen an. Auch Papst Franziskus führt Gespräche zur Wiedereingliederung. Gerade deshalb hält es der Verein AVREF für überaus wichtig, dass die mutmaßlichen Straftaten bald vor Gericht untersucht werden, sagt Suarez-Pazos.
    "Es ist durchaus möglich, dass die Piusbruderschaft in naher Zukunft eine Personalprälatur wird wie der Opus Dei, das würde sie ziemlich unangreifbar machen."
    AVREF hat auch eine andere, nach außen hin besonders sittenstrenge Gemeinschaft im Visier: die "Ordensgemeinschaft vom Heiligen Johannes". Auch dort gab es offenbar sexuellen Missbrauch. So wurde ein Bruder der Johannesgemeinschaft 2015 zu acht Jahren Haft wegen Vergewaltigung und Missbrauch verurteilt. An diesem Freitag beginnt der Prozess gegen einen inzwischen ausgeschlossenen Bruder. Ihm wird vorgeworfen, dass er einen Erwachsenen und ein Kind sexuell missbraucht habe. Zuvor habe der Mann in einem Kloster in der Elfenbeinküste gearbeitet und sei auch dort jahrelang mit Kindern in Kontakt gewesen, sagt Nelly Souron-Laporte, Rechtsanwältin und Mitglied von AVREF.
    "Noch gilt die Unschuldsvermutung. Aber es gibt schwere Verdächtigungen, dass sich der Mann auch in Afrika strafbar gemacht hat. Die Johannesgemeinschaft hat ihn nach Frankreich zurück beordert und hier sofort wieder in eine riskante Umgebung gesteckt, das war nicht geschickt."
    Der Mann habe Jugendlager in der Auvergne organisiert. Auch bei der Johannesgemeinschaft habe die Kirchenleitung bisher immer weggeschaut, sagt Aymeri Suarez-Pazos.
    "Sie untersteht dem Bischof von Autun. Aber Monseigneur Rivière verleugnet diese Vorfälle, dabei wurden ihm die Akten und Klagen zugeschickt. Er reagiert einfach nicht."
    Schlagzeilen machen aber im Moment nicht so sehr die Pius-Bruderschaft und die Johannesgemeinschaft, sondern verschiedene Missbrauchsskandale in der Mitte der Kirche. Der Selbsthilfeverein AVREF hofft, dass die jüngsten Zeugenaussagen aus Lyon nun die Schweigemauer in der Kirche brechen und weitere Missbrauch-Opfer ermutigen, zur Polizei zu gehen. In Lyon haben sich seit Januar mehrere Männer zu einem Kollektiv zusammengeschlossen und eine Website mit dem Namen "La parole libérée" – Das befreite Wort – eröffnet. Auf ihrer Website haben schon 17 Opfer publik gemacht, wie sie als Kinder in einer Pfadfindergruppe von einem pädophilen Pfarrer missbraucht worden sind.
    Der betroffene Pfarrer hat seine Taten schon 1991 zugegeben, war aber bis letzten Sommer noch im Amt. Der Bischof von Lyon wusste seit 2007 Bescheid. Er habe den Pfarrer nicht vom Amt enthoben, sagte Kardinal Barbarin in einem Zeitungsinterview, weil dieser ihm versichert habe, dass seit 1991 nichts mehr vorgefallen sei. Die Justiz ermittelt nun gegen den Pfarrer und auch gegen den Kardinal – das ist eine Premiere in Frankreich.
    Unter dem Druck der vielen Enthüllungen hat der Vorsitzender der französischen Bischofskonferenz, Georges Pontier, Mitte April reagiert und Maßnahmen angekündigt.
    "Zuerst einmal geht es uns um die Opfer. Es ist wichtig, dass alle Opfer eine Stelle bekommen, wo sie empfangen, gehört und begleitet werden. Sie können natürlich auch den zuständigen Bischof treffen. Jedes Opfer soll in unseren Diözesen ganz leicht Kontakt und Gehör finden können."
    Außerdem soll eine unabhängige Expertenkommission unter Leitung eines Laien gegründet werden, um die Bischöfe zu beraten, wenn sie entscheiden müssen, ob ein missbrauchsverdächtigter Pfarrer im Amt bleiben kann oder nicht.
    Das Kollektiv "La Parole libérée" hat die Vorschläge sofort zurück gewiesen. Auch unser eben genannter Betroffener, der in Rom erfolglos gegen die Pius-Bruderschaft geklagt hat, gibt sich damit nicht zufrieden. (Anmerkung der Redaktion: wir haben den Gesprächspartner auf seinen Wunsch nachtäglich anonymisiert.)
    "Das reicht vorne und hinten nicht. Die französischen Bischöfe sollten sich darüber klar werden, dass man nicht Richter und Partei zugleich sein kann. In Lyon gab es vorher schon eine solche Anlaufstelle für Opfer. Da hat man den Täter und eines seiner Opfer zusammen gebracht und sie Hand in Hand ein "Vater unser" und ein "Ave Maria" beten lassen. Das bringt doch nichts. Die Bischofskonferenz muss lernen, wie man mit solchen Dingen umgeht und darf nicht alles vermischen."
    Aymeri Suarez-Pazos tut den Maßnahmenkatalog der Bischöfe als reine Werbeaktion ab. Der Vorsitzende der AVREF fordert: Ein Bischof, der Pädophilie vertuscht hat, muss zurücktreten.
    "Bisher üben alle Bischöfe den Schulterschluss mit Kardinal Barbarin – dadurch machen sie sich selbst unglaubwürdig. Für mich haben alle, die Barbarin schützen wollen, etwas zu verbergen. Wie soll ich ihnen da glauben, dass sie die Missbräuche auch wirklich ans Tageslicht bringen wollen?"
    Auch in den vergangenen Tagen sind neue Fälle publik geworden. Im Bistum Orleans ist ein Pfarrer seit 2012 wegen Pädophilie angeklagt. Die Anzeige hat damals der Bischof erstattet, vom Priesteramt hat er den Mann aber erst jetzt suspendiert. "Ich hätte es früher tun sollen", räumte Bischof Blaquart auf einer Pressekonferenz ein. Genau dieses Bistum gilt eigentlich als vorbildlich, weil es bereits vor einem Jahr eine Anlaufstelle für Opfer eingerichtet hat. Seit März sind dort schon zwölf Anrufe eingegangen.