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Frankreich
Radeln für die Zukunft der Wissenschaft

Jeder zehnte Wissenschaftler mit Doktortitel in Frankreich ist arbeitslos, mehr als 30.000 leben in prekären finanziellen Verhältnissen. Mit der Protestbewegung "Wissenschaft in Bewegung" protestieren sie jetzt für mehr Planungssicherheit - und schwingen sich dafür sogar aufs Rad.

Von Suzanne Krause | 20.10.2014
    Im Büro von Alain Trautmann im Pariser Universitätskrankenhaus Cochin hängen bunte Wimpel mit dem Aufdruck "Sciences en Marche": Motto der aktuellen Protestbewegung, der sich der renommierte Immunologe angeschlossen hat.
    Schon 2004 gründete Trautmann die Aktion "Retten wir die Universität" – die damalige große Protestbewegung war Auslöser für eine Hochschulreform und für die Gründung der Nationalen Forschungsagentur ANR.
    Hochgebildet und arbeitslos
    Dennoch hat sich die Lage weiter zugespitzt: Seit 2010 ist die Zahl der Wissenschaftsdoktoren um 15 Prozent gesunken. Jeder Zehnte mit einem Doktortitel ist arbeitslos. Das diesjährige Forschungsbudget bei der interministeriellen Mission für Forschung und Hochschullehre ist 82 Millionen Euro niedriger als im Vorjahr. Alain Trautmann sagt: Es ist Zeit, dass die Regierung handelt.
    "Das Forschungsbudget muss um ein bis zwei Milliarden Euro aufgestockt werden. Angesichts des Defizits in unserem Staatshaushalt schlagen wir vor, einen Teil des Steuerkredits für die Forschung in Privatbetrieben lockerzumachen und das Geld in die öffentliche Forschung zu stecken."
    Mittel, um öffentliche Forschung über einen Mehrjahresplan zu finanzieren. Vor allem, um Posten mit langfristigen Verträgen zu schaffen. Das sind, sagt Isabelle Dusart, die Hauptforderungen der aktuellen Protestbewegung. Dusard leitet das Labor für Neurobiologie an der Pariser Universität Pierre und Marie Curie.
    "Beim nationalen Wissenschaftsrat CNRS ist seit 2009 im Bereich Forschung und Lehre die Zahl neuer Posten um ein gutes Viertel geschrumpft. Und die Zahl der Rekrutierungen bei den Wissenschaftlern um die Hälfte eingebrochen. Das aber zermürbt die Studenten, wie wir in unseren Labors sehen: Immer mehr stellen sich die Frage, ob eine Doktorarbeit überhaupt noch lohnt."
    Radikale Budgetkürzungen
    Ysander von Boxberg arbeitet auf demselben Campus wie Dusart, in seinem Labor dreht sich alles um Rückenmarksverletzungen. Seit 20 Jahren betreibt der Deutsche in Paris Grundlagenforschung - die mittlerweile fast ausschließlich von privaten Einrichtungen finanziert wird.
    Seit dem Aufbau der Nationalen Forschungsagentur ANR, französisches Pendant der Deutschen Forschungsgesellschaft, wurden andere Kredite radikal gestutzt. Ysander von Boxberg resümiert die aktuelle Statistik des ANR.
    "Dieses Jahr zum Beispiel in der Sciences de la Vie, also in der Biologe im Wesentlichen hat es ungefähr 3.000 Anträge gegeben auf solche Stipendien über ein Jahr, die also inzwischen leider die Haupteinnahmequelle der Labors geworden ist - von denen 270 bewilligt worden sind. Das waren nicht mal acht Prozent der gestellten Anträge."
    Ungehörter Hilferuf
    Den offenen Brief, den Labor-Chefs aus dem ganzen Land kürzlich an Staatspräsident Hollande schickten, ein Hilferuf, unterzeichneten bislang über 750 Forschungsleiter. Doch bei den aktuellen Staatsbudgetdebatten verweigerten die Abgeordneten, Mittel aus dem Forschungssteuerkredit für die Privatwirtschaft zugunsten der öffentlichen Forschung umzuverteilen. Diese politische Entscheidung dürfte die Protestbewegung weiter anfachen. Nicht nur Isabelle Dusard geht es um eine Grundsatzfrage:
    "Es heißt immer, Europa solle eine Wissensgesellschaft sein. De facto aber werden immer mehr Mittel für die Forschung, also für das Wissen von morgen, gestrichen. Wir müssen nun entscheiden, in welcher Gesellschaft wir morgen leben wollen."