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Frankreich
Streit über die Schulreform

Nach den Sommerferien 2016 soll die französische Mittelschule neue Strukturen und neue inhaltliche Programme bekommen. Da auch die Sprachzweige betroffen sind, laufen die Drähte in der deutsch-französischen Diplomatie heiß. Heute nun ein landesweiter Lehrerstreik - Frankreichs Bildungsreform der Ministerin Najat Vallaud-Belkacem schlägt Wellen.

Von Ursula Welter | 19.05.2015
    Die französische Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem mit einem Stapel Akten in der Hand
    Die französische Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem (dpa/Etienne Laurent )
    "Wenn Sie eine echte Debatte wollen, Projekt gegen Projekt, Werte gegen Werte, dann sind wir bereit. Ihre Bilanz gegen unser Projekt!" Der Premierminister kämpft. Für die Reform der einheitlichen Mittelschule, des Collège, und für Najat Vallaud-Belkacem: "Ich will eine Schule, in der wir den Erfolg wirklich demokratisieren."
    Die junge Bildungsministerin nennt die einheitliche Mittelschule Frankreichs "dringend reformbedürftig". Fast 150.000 Jugendliche jährlich ohne Abschluss und "eines von vier Kindern verlässt das Collège ohne grundlegende Französisch-, Mathematik- und Geschichtskenntnis."
    Die Ministerin will mehr "fächerübergreifendes Arbeiten", um die Kinder zu motivieren, "weniger Langeweile" lautet ihr Motto. Die Stunden zur direkten Begleitung schwacher Schüler sollen ausgebaut, das aus ihrer Sicht zu "elitär" organisierte Sprachenangebot umorganisiert werden.
    Die Gegner der Reform sitzen auch deshalb nicht nur auf den konservativen Oppositionsbänken. Sie sitzen auch in den eigenen Reihen, auch Anhänger der Linken werden heute auf die Straße gehen und streiken.
    Die einen stört, dass Latein und Griechisch künftig in einem interdisziplinären Modul namens "Sprachen und Kultur der Antike" aufgehen und, wie die Kritiker meinen, untergehen sollen.
    Die anderen fürchten um den Deutsch-Unterricht, der mit der Einführung der "Zweisprachenzweige", in Kombination mit Englisch, in den vergangenen Jahren eine Renaissance erlebt hatte.
    Die Ministerin hält den Status quo für elitär. Vor allem Eltern aus besseren Verhältnissen schickten ihre Kinder in diese Klassen, während Schüler aus sozial schwachen Familien abgehängt würden, sagt sie. "Man gibt nicht sein Bestes, wenn man in Klassen ist, die die Kinder dritteln und selektionieren." Vallaud-Belkacem will ein Jahr früher als bislang eine zweite lebendige Sprache für alle Schüler anbieten. Und entsprechend bei den bisherigen Zweisprachen-Klassen sparen.
    Kritiker sehen Absenkung des Bildungsniveaus
    Ein Abend im Goethe-Institut in Paris. Alle Reihen sind besetzt, viele Besucher müssen stehen, der Andrang ist groß. Gegen die geplante Streichung der "Classes Bilangues", der Zweisprachen-Klassen, wird auf vielen Ebenen mobil gemacht. Die deutsche Botschafterin in Paris, auch sie ist an diesem Abend im Saal, hat der französischen Bildungsministerin bereits ihre Sorgen mitgeteilt, die deutsch-französischen Freundschaftsvereine sammeln Unterschriften, Europaabgeordnete haben sich eingeschaltet.

    Zu den Diskussionsteilnehmern im Goethe-Institut gehört Jürgen Krameyer. Er unterrichtet am Lycée Cassini in Clermont, in der Region Picardie. Zum Einzugsgebiet seines Gymnasiums gehören vier Mittelschulen in Gegenden, die teilweise als Brennpunkt gelten, sagt Krameyer. Von "elitär" könne bei dem derzeitigen Sprachangebot also keine Rede sein: "Wenn ich an meinen Europazweig denke, dann denke ich an meinen kleinen Franko-Algerier, dessen Vater Busfahrer ist, dann denke ich an eine Bäckerstochter."

    Kinder aus allen sozialen Schichten würden im bestehenden Sprachsystem zu höheren Leistungen angespornt. "Wenn diese Reform durchgeführt wird, wird es unglaublich schwierig sein, wieder zurückzukommen auf den alten Stand und wir werden im französischen Bildungssystem die Fremdsprachen nicht mehr beherrschen."

    Wie viele andere kritisiert auch der Deutschlehrer aus Clermont in der Picardie, dass das allgemeine Bildungsniveau mit dieser Reform weiter abgesenkt werde. "Diese Reform ist schlecht, die ist weder links noch rechts, und die macht die Schule in Frankreich noch schlechter." Andere kritisieren, dass Islam-, Juden- und Christentum als Pflichtfächer künftig aufgewertet werden, die Schulen aber wählen dürfen, ob sie etwa " mittelalterliches Christentum" in den Lehrplan nehmen oder nicht. Überhaupt ist den streikenden Lehrern die "Wahlfreiheit" ein Dorn im Auge, sie fürchten einen Wettlauf der Schulen, Lehrer und Disziplinen untereinander. Zwar beteuert die Ministerin, über "Latein" sei noch nicht das letzte Wort gesprochen und auch "Deutsch" falle mit ihrer Reform ja nicht zwangsläufig unter den Teppich. Aber die Germanisten fürchten das Schlimmste. "Also ich verstehe meine Ministerin nicht, ich gehöre der gleichen Partei an, ich werde austreten, wenn diese Reform durchgeht."