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Frankreich
Suche nach Auswegen aus der nationalen Misere

Die Feierlaune der Franzosen bei der Fußball-EM hat lange auf sich warten lassen. Das lag aber nicht nur am viel zitierten "Ergebnisfußball" der Nationalmannschaft, sondern wohl vor allem an der Stimmung im Land. Seit Monaten kämpfen Gewerkschaften gegen die neue Arbeitsmarktreform der Regierung - und der Präsident um Frankreichs Führungsrolle in Europa.

Von Jürgen König | 05.07.2016
    Mitglieder der französischen Gewerkschaft CGT gucken während eines Streiks das Fußball-EM-Spiel Frankreich gegen Rumänien
    Kurze Pause von Streiks und Protesten: Mitglieder der französischen Gewerkschaft CGT gucken das Fußball-EM-Spiel Frankreich gegen Rumänien (GEOFFROY VAN DER HASSELT / AFP)
    Drei Wochen hat es gedauert, bis die Fans der französischen Fußball-Nationalmannschaft sich zum ersten Mal auch außerhalb der Stadien zu spontanen Freudenfesten hinreißen ließen: Erst nach dem 5:2-Sieg gegen Island war es soweit. Dis dahin war eher von "französischem Ergebnisfußball" die Rede gewesen: Weder die bisherigen Siege, geschweige denn das Spiel der eigenen Mannschaft hatte die Stimmung im Lande aufheitern können.
    Überhaupt Heiterkeit, die französische Leichtigkeit: Sie wollen sich nicht recht einstellen in dieser Zeit, die nach grundsätzlichen Veränderungen verlangt, für welche die Kraft aber nicht zu reichen scheint. Allem voran: die Arbeitsmarktreform. Nach wochenlangen Debatten hatten sich die Regierung und reformorientierte Gewerkschaften auf einen Gesetzestext verständigt. Mithilfe des Artikels 49-3 der Verfassung - ohne Abstimmung in der Nationalversammlung, aber verknüpft mit der Vertrauensfrage -, wurde er durchs Parlament gebracht und an den Senat verwiesen. Der wird von den Konservativen beherrscht und veränderte den Gesetzestext gravierend. Die 35-Stunden-Woche wurde nicht nur gelockert, sondern völlig abgeschafft, die Deckelung der Abfindungen bei Kündigungen dagegen wieder eingeführt.
    Heißer Demonstrations-Herbst?
    Arbeitsministerin Myriam El Khomri protestierte sofort: Mit diesem Text würden ausschließlich die Interessen des Arbeitgeberverbandes MEDEF berücksichtigt, man werde ihn in der Nationalversammlung erneut ändern, die 35-Stunden-Woche bliebe unangetastet. Doch auch sie will den Unternehmen mehr Freiheiten geben, mit ihren Belegschaften sollen sie selber über Arbeitszeiten und Überstunden verhandeln, statt wie bisher von branchenweiter Einigung durch die Gewerkschaften abhängig zu sein. Das ist für radikallinke Gewerkschaften wie die CGT nach wie vor unannehmbar, sie ist die treibende Kraft der anhaltenden Proteste. Generalsekretär Philippe Martinez:
    "Wenn die Regierung oder die Nationalversammlung - wenn sie beide bestimmte Dinge nicht berücksichtigen: Wir werden unsere Forderungen aufrechterhalten! Ich will jetzt keinen heißen Herbst ankündigen - aber, wenn nichts passiert: Unsere Position wird nach dem Sommer die von vor dem Sommer sein!"
    Proteste könnten erneut angeheizt werden
    Frankreich werde derzeit "von zwei radikalen Minderheiten bedroht", kommentierte das Wochenmagazin "Le Point": von der Terrormiliz "Islamischer Staat (IS) und von der Gewerkschaft CGT" - das fanden viele Franzosen gar nicht witzig. Eine Lösung des Streits scheint nach dem Votum des Senats in weite Ferne gerückt. Staatspräsident François Hollande hat mehrfach bekräftigt, das Gesetz durchsetzen zu wollen: Zu erwarten ist, dass auch die zweite Lesung des Gesetzes die Nationalversammlung nur durch Anwendung von Artikel 49-3 passieren wird, was wie beim ersten Mal die Proteste anheizen dürfte. Gerard Filouche, Mitglied der Sozialistischen Partei und seit 53 Jahren auch Mitglied der CGT: Er ist sich sicher, dass das Gesetz nicht durchkommen wird:
    "Irgendwann ist eine Regierung so isoliert, dass sie an ihre Grenzen stößt, dass es nicht mehr weitergeht. Wer regiert uns denn heute: sechs, sieben Leute? Einige 'höhere Kreise'? Ihnen stehen immer noch einige Millionen Arbeiter und Angestellte gegenüber, die 'nein' sagen. Zu gegebener Zeit werden auch diese 'höheren Kreise' verpflichtet sein, diese Millionen Menschen zu beachten! Und sie werden sie beachten, ich wette, sie werden sie anhören!"
    Hollande will Führungsrolle in Europa beanspruchen
    Wie um der nationalen Misere etwas entgegen zu setzen, nutzt Präsident Hollande die vermeintliche Gunst der Stunde, um für Frankreich bei der Gestaltung eines "neuen Europas" eine Führungsrolle zu beanspruchen. Und zeigt sich hart dabei, schnell müssten Verhandlungen beginnen, unumkehrbar sei der Prozess, nur einen Schluss lasse das Referendum zu: "die Briten wollten raus, also gehen sie raus".
    "La conclusion du referendum: les Britanniques ont voulu sortir - ils sortent."
    Sprachs und stellte umgehend Steuererleichterungen für britische Banken und Finanzinstitute in Aussicht, damit diese nach Paris umziehen. Mit konkreten politischen Plänen hält sich das Élysée noch zurück - solange nicht absehbar ist, wie es in Großbritannien weitergeht und solange Bundeskanzlerin Angela Merkel von einem "neuen Europa" nicht viel hören will. Den jahrelangen Sparkurs beizubehalten, lehnen viele Franzosen ab; es dürfte auch nicht in Hollandes Interesse liegen, wohl aber der jüngste Vorstoß Sigmar Gabriels, das Sparen zugunsten einer "wirtschaftlichen Trendwende" aufzugeben - was auch im Sinne des italienischen Ministerpräsidenten Renzi wäre. Doch gingen Frankreich und Italien gemeinsam - was würde dann aus dem viel beschworenen deutsch-französischen Tandem? Und: Sind nicht Frankreich und Deutschland wirtschaftlich so verflochten und aufeinander angewiesen, dass sie die "natürlichen" Partner sind? Andererseits: Wie soll man in einem "neuen Europa" eine Führungsrolle spielen, wenn der wichtigste Partner gar kein "neues Europa" will? Gedankenspiele im Élysée-Palast.
    Das EM-Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich kann vor diesem Hintergrund ein wahres Politikum werden.