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Frankreich und die #Metoo-Debatte
"Das Raffinement zwischen den Geschlechtern nicht aufs Spiel setzen"

Die französische Kultur der Liebe und der Verführung stößt durch den neuen Schwung in der #Metoo-Debatte an ihre Grenzen. "Die Liebe ist ein Spiel, das man in diesen Gesellschaften spielen darf. Das heißt aber nicht, dass es keine Spielregeln gibt", sagte Romanistin Barbara Vinken im Dlf.

Barbara Vinken im Gespräch mit Kathrin Hondl | 14.01.2018
    Der veröffentlichte Brief in der Zeitung Le Monde.
    Dieser in "Le Monde" erschienene offene Brief sorgt nicht nur in Frankreich für neuen Zündstoff in der #Metoo-Debatte (Deutschlandfunk)
    Kathrin Hondl: "La séduction à la francaise est-elle en danger?" - Ist die "Verführung à la francaise" in Gefahr? Die Frage war gerade in der französischen Zeitung "Libération" zu lesen – und es ging da natürlich um die #Metoo – Debatte - die weltweite Debatte über sexualisierte Gewalt und übergriffige mächtige Männer. Mit ziemlich kritischen Worten zu dieser Debatte hatten sich nämlich in Frankreich diese Woche 100 Frauen zu Wort gemeldet. In der Zeitung "Le Monde" veröffentlichten sie einen offenen Brief, in dem sie mit Blick auf #Metoo vor dem – Zitat – "Klima einer totalitären Gesellschaft" warnten. "Une liberté d’importuner" - Die Freiheit, jemanden zu belästigen, sei für die sexuelle Freiheit unerlässlich – hieß es da unter anderem – und unterschrieben haben so berühmte Frauen wie Catherine Deneuve, die Künstlerin Gloria Friedman oder die Kunstkritikerin und Autorin Catherine Millet.
    Und zumindest eins ist klar: Der Brief der Französinnen hat neuen Schwung in die #Metoo-Debatte gebracht – denn er irritiert viele, die sich fragen, was für eine sexuelle Freiheit Catherine Deneuve und Co da wohl meinen. Ganz abgesehen von der Frage, was das bitteschön sein soll "Verführung à la francaise"? Darüber möchte ich jetzt mit Barbara Vinken sprechen –Professorin für Literaturwissenschaft und Romanistik in München. Und, Frau Vinken, Frankreich gilt ja nun traditionell als Land der Liebe und Verführungskunst – auch von Libertinage und sexueller Freiheit. Inwiefern ist das denn in diesem Brief der hundert Frauen eine typisch französische Perspektive, die da zum Ausdruck kommt?
    Barbara Vinken: Ich denke schon, dass es eine französische Perspektive ist, oder man könnte auch vielleicht sagen, eine romanische Perspektive. Und ganz stark in diesem Brief ist ja die Angst vor einem neuen Totalitarismus, die Angst vor so was wie einer neuen Hexenjagd, diesmal auf Leute, die sexuell irgendwie übergriffig werden, auf Männer, die sexuell übergriffig werden, oder, sagen wir mal, der Wunsch, die eigene Kultur gegen eine Puritanisierung der Gesellschaft im Namen einer sexuellen Freiheit zu verteidigen. Und da kann man vielleicht noch mal auf diese Urszene des Puritanismus zurückkommen. Das ist ja der berühmte Roman von Puritaner Samuel Richardson im 18. Jahrhundert, der die höchste Auflagenzahlen eines Romans jemals hatte, und in dem die moderne Frau, die freie Frau sich im Prinzip dadurch definiert, dass sie vollkommen unverführbar ist. Das heißt, die weibliche Person sagt, du kannst mich absolut nicht verführen. Der männliche Verführer, Aristokrat, reich, mächtiger natürlich als das Mädchen mit bürgerlichem Hintergrund, der männliche Verführer sagt, Frauen tun immer nur so, als wenn sie Engel sind, in Wirklichkeit sind es alles Huren, und ich beweise das dadurch, dass ich seriell Massen von ihnen einfach verführe. Ich finde genau, dass dieses Geschlechterverhältnis die erotische Kultur Amerikas, wenn es denn so eine gibt, sagen wir mal, die sexuelle Kultur Amerikas bis heute eigentlich dominiert. Das heißt, die Frau ist dazu da, den Wüstling zum Ehemann und Vater zu erziehen, und das gelingt ihr, indem sie den Sex an die Ehe koppelt.
    Ein sehr spezifisches Freiheitsverständnis
    Hondl: Aber wie ist das jetzt bei den Französinnen? Sie haben gesagt, es ist da ja ein wirklich sehr spezifisches Freiheitsverständnis, das da in diesem offenen Brief von Catherine Deneuve und den anderen 99 Frauen irgendwie zum Ausdruck kommt, diese "Liberté d’importuner", die Freiheit, jemanden zu belästigen im Namen der sexuellen Freiheit. Diese Formulierung, die war ja auch der Titel des "Le Monde" Artikels. Lässt sich das denn anders verstehen denn als Freibrief für übergriffige Männer, oder was für eine Freiheit ist da gemeint?
    Barbara Vinken sitzt auf einem Fenstersims im Treppenhaus des Deutschlandradio Kultur-Funkhaus in Berlin.
    Barbara Vinken, Literaturwissenschaftlerin und Romanistin (Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi)
    Vinken: Es geht ja in dem Brief ganz stark darum, was justiziabel ist und was zum gesellschaftlichen Tod führt oder was von der Justiz erfasst wird. Und auch in diesem Zusammenhang ist nicht zu vergessen: Als die Calvinisten in Genf drankamen, was die zuerst gemacht haben ist eine Geheimpolizei, die Ehebrüchige offiziell anklagt und damit gesellschaftlich unmöglich machte. Das heißt, dass calvinistisch-puritanische Reformmodelle tatsächlich immer an so was wie eine totalitäre Kontrolle der Sexualität gebunden waren. Wir haben das heute weitgehend vergessen, aber ich glaube, dass es genau diese totalitäre Kontrolle von Sexualität ist, gegen die eine Freiheit von Sexualität eingeklagt wird, und das heißt nicht, dass jeder machen kann was er will, sondern dass man nicht in einer Gesellschaft steht, die sich über sexuelle Verbote und über deren Bestrafung und Verfemung definiert. Und das ist durchaus, finde ich, der Fall der amerikanischen Gesellschaft, deren Haupttopos ist, dass irgendwie schon wieder eine Frau von einem Ehebrecher betrogen worden ist. Es geht keine Sekunde in diesem Brief darum, dass Vergewaltigung kein Verbrechen ist und dass sexuelle Nötigung nicht auch ein Verbrechen ist. Das behauptet der Brief nicht und das behauptet keiner, der diesen Brief unterzeichnet hat.
    Hondl: "Vergewaltigung ist ein Verbrechen." Das ist der erste Satz in diesem Brief. Dann geht es aber auch gleich sehr französisch weiter. Dann heißt es nämlich: "Galanterie aber sei keine machistische Aggression." – Galanterie also. – Auf was für eine Tradition berufen sich die Frauen da eigentlich? Ist das die französische Salonkultur des 18. Jahrhunderts, oder worum geht es bei der Galanterie?
    Vinken: Man kann natürlich sagen, das ist im Prinzip so was wie ein Liebeskult, und es ist natürlich auch so was wie ein Frauenkult. Während in einem puritanischen Kontext Liebe tatsächlich nicht frei ist, weil an die Ehe gebunden und sonst diffamiert wird – die Frau wird zur Hure, der Mann wird zum Aussätzigen -, ist die Liebe in romanischen Ländern als Frauenkult, als Liebeskult erstaunlicherweise nicht an eine Institution gebunden. Und sie wird, wenn sie außerhalb dieser Institution stattfindet, auch nicht sanktioniert. Das heißt, die Liebe ist ein Spiel, das man in diesen Gesellschaften spielen darf. Das heißt aber nicht, dass es keine Spielregeln gibt. Das heißt wohl, dass manche die nicht ganz so gut beherrschen und dass man sie dafür nicht gleich zum Teufel schicken soll.
    Ein spezifisches französisches Sexismus-Problem
    Hondl: Jetzt sehen ja viele diese französische Verführungskultur in Gefahr – nicht zuletzt die Unterzeichnerinnen dieses Briefes, über den sich so viele aufregen. Wie sehen Sie das? Dass es auch in Frankreich gewisse Probleme gibt mit Sexismus und sexualisierter Gewalt, das ist ja nicht erst seit der #Metoo-Debatte bekannt. Man braucht sich ja nur zu erinnern: vor ein Paar Jahren.
    Vinken: Strauss-Kahn!
    Hondl: Strauss-Kahn, IWF-Präsident damals, in den USA. Da haben auf einmal in Frankreich viele Frauen, vor allem Politikerinnen von alltäglichen sexistischen Sprüchen und Schlimmerem erzählt. Meinen Sie, es gibt ein spezifisches französisches Sexismus-Problem, das mit dieser französischen Kultur, der Verführungskultur, der Galanterie irgendwie zu tun hat?
    Vinken: Nein. Ich habe es selber so erfahren, dass in Amerika Machtstrukturen eigentlich ständig für sexuelle Übergriffe und Erpressungsmanöver benutzt werden. Ich würde sogar sagen, das ist die eigentlich herausragende Form der dort praktizierten wie auch immer Sexualität. In dieser Härte, glaube ich, sind wir das in Europa nicht gewöhnt und fast als Norm sind wir das in Europa nicht gewöhnt. Ich denke schon, dass es bei uns noch Raum für Flirten, Raum für Höflichkeit, für Galanterie, also einen erotisch interessanten Raum gibt, wie ich den in Amerika eigentlich nicht mehr so sehe, wo die Macht, die Erpressung, das Machtgefälle sehr viel stärker reinspielt. Boccaccio hat das ganz schön in seinen hundert Novell. Der hat gesagt: Es ist keine gute Idee für eine Frau, einen ihr überlegenen Mann zu lieben. Es ist keine gute Idee für einen Mann, eine ihm unterlegene Frau zu lieben. Und ich denke, an dem Paar zum Beispiel Macron/Madame Macron sieht man dieses Machtverhältnis ganz schön und dieses Verhältnis, das eine sehr spezifische Form von Liebe hervorbringt, indem es das normale Machtgefüge, Männer stärker als Frauen, Männer reicher als Frauen, Männer höhergestellt als Frauen, dieses Verhältnis umkehrt. Und ich meine, gerade darin liegt die Freiheit des Eros, die Schönheit des Eros und der Wunsch, dass diese Möglichkeit dieses Liebeskultes erhalten bleibt und nicht von solchen totalitären Maßnahmen eingeschränkt wird.
    Fürchterlich peinliche und hässliche Verhältnisse
    Hondl: Das französische Präsidentenpaar Brigitte und Emmanuel Macron wäre die Verkörperung, die Verwirklichung der französischen Verführungskultur an der Staatsspitze?
    Vinken: Vielleicht das aktuellste, das aktuellste, wo es jedenfalls nicht so ist, wie wir es mit Trump und Melania haben, ein Trophy Wife, was dieser arme Mann auch noch öffentlich sagt, ein Mann, der sich das an den Hut stecken kann. Das sind ja fürchterlich peinliche Verhältnisse und hässliche Verhältnisse. Dagegen finde ich, dass es in Europa schon noch deutlich schönere Verhältnisse gibt und wir versuchen sollten, dass wir diese Schönheit der Liebe, die Schönheit der Verführung, das Raffinement zwischen den Geschlechtern nicht dadurch aufs Spiel setzen sollten, dass sich Frauen ausschließlich dadurch definieren, dass sie Opfer von sexuellen Übergriffen waren, sondern auch einen Diskurs möglich machen sollten, in dem wir uns selber als Begehrende, vielleicht auch als Objekt der Begierde, aber in dem wir sozusagen in der Lage bleiben, als Subjekt unser Begehren anders zu artikulieren als denn eines, das eigentlich keines hat und eigentlich unschuldig ist und dem das andere immer nur übergriffig aufgedrückt wird. Das heißt nicht, dass in den Fällen, wo das passiert, das auch und unbedingt und verstärkt ausgesprochen werden muss, aber es darf nicht ausschließlich auf diesen Sprechakt reduziert werden. Und ich glaube, nur darum geht es in diesem Brief.
    Hondl: Klingt fast so, als ob Sie diesen Brief auch hätten unterschreiben können?
    Vinken: Ich hätte ihn etwas anders formuliert, aber im Prinzip hätte ich ihn auch unterschreiben können, ja.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.