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Frankreichs Schulen
Von wegen "Liberté, Egalité, Fraternité"

Frankreichs Schulen produzieren soziale Ungleichheit: Es fehlt an erfahrenen Pädagogen und an Weiterbildung für die, die mit heterogenen Klassen arbeiten. Das Kernproblem ist jedoch eine Bildungspolitik, die von der Realität längst überholt worden ist. Zu diesem Ergebnis kommt jetzt ein Forschungsgremium.

Von Bettina Kaps | 05.10.2016
    Zwei Schülerinnen am Alfred Nobel Gymnasium im Pariser Vorort Clichy Sous Bois. 2009. Zwei Silhouetten vor einem hohen Zaun, im Hintergrund ein runtergekommener Plattenbau.
    Gerade in Problemvierteln wie im Pariser Vorort Clichy Sous Bois fällt ständig der Unterricht aus, Vertretungslehrer gibt es nur selten. Dabei werden solche Gegenden als "vorrangige Bildungszonen" eingestuft. (imago /ecomedia / Robert Fishman)
    Saint-Denis, im Norden von Paris. Gut 50 Eltern haben sich vor dem Rathaus versammelt, um gegen die katastrophale Lage in ihren Vor- und Grundschulen zu protestieren.
    "Saint-Denis ist wütend, wir haben die Schnauze voll von der Misere", ruft auch Linda Toursal. Bei ihren Kindern fiele ständig Unterricht aus, klagt die dreifache Mutter und Elternsprecherin. Vertretungslehrer gebe es selten. Wenn doch, dann stünden fast immer unqualifizierte Aushilfskräfte vor den Schülern.
    "Wir hatten eine vierte Klasse, wo der Lehrer sehr lange abwesend war. Sein Vertreter musste auch gleich wieder vertreten werden, das ging über Wochen so. Als es Abschlusszeugnisse gab, waren in dieser Klasse fast alle Spalten leer. Die Kinder konnten nicht geprüft werden, weil man ihnen nichts beigebracht hatte. Das ist ein riesiges Problem."
    Gut gemeinte Förderprogramme, die nichts bringen
    Dabei liegen die meisten Schulen von Saint-Denis in Gegenden, die das Bildungsministerium eigens als "vorrangige Bildungszone" eingestuft hat, weil viele Familien arm sind, einen Migrationshintergrund haben und nicht oder nur mangelhaft Französisch sprechen. Diese Schulen sollen offiziell mehr Mittel erhalten. Aber ausgerechnet ihre Schüler schneiden bei Vergleichsuntersuchungen immer schlechter ab.
    Ein Wissenschaftsgremium hat nun zwei Jahre lang erforscht, was in Frankreichs Schulen schief läuft. Das größte Problem bestehe ausgerechnet in den gut gemeinten Förderprogrammen für die "vorrangigen Bildungszonen", sagt die Vorsitzende des Gremiums, Nathalie Mons, im französischen Sender "France Culture".
    "Im Lauf der Jahre hat sich eine negative Dynamik entwickelt. Die Förderprogramme wurden auf immer mehr Schulen ausgeweitet. Es wurde zwar mehr Geld hineingesteckt, aber nicht auf wirksame Weise. Von allem, was beim Lernen wirklich zählt, haben die Schüler in den benachteiligten Vierteln heute weniger als ihre Kameraden."
    Zum Beispiel erfahrene Pädagogen: Die älteren Lehrer können sich mehr oder weniger aussuchen, wo sie unterrichten möchten und gehen meistens in Schulen, in denen sie besser arbeiten können. Daher landen ausgerechnet unerfahrene Junglehrer in den sogenannten Getto-Schulen, wo die Kinder besondere Unterstützung brauchen. Die Lehrer verlieren dort so viel Zeit mit Disziplinarmaßnahmen, dass ihre Schüler deutlich weniger effektiven Unterricht haben als ihre Altersgenossen in besseren Schulen. Nachteilig sei auch, dass Frankreich immer zu spät eingreife, sagt Nathalie Mons.
    Überfordert von heterogenen Klassen
    "Man wartet ab, bis Schulprobleme auftauchen. Dann entwickelt man Hilfsprogramme für die leistungsschwachen Schüler. Die meisten Länder der OECD haben ihre Bildungspolitik grundlegend modernisiert, sie handeln präventiv. Nur Frankreich macht weiter wie vor 30 Jahren."
    Problematisch ist auch, dass sich Lehrer nicht zwingend fortbilden müssen. Kein Wunder also, dass sich diese oft überfordert fühlen und nicht wissen, wie sie mit heterogenen Klassen umgehen sollen.
    Bildungsexpertin Mons erklärt auch, warum Frankreich stur an seiner Bildungspolitik festhält und nicht einmal versucht, die Weichen umzustellen:
    "Unsere Politiker und Beamten scheren sich nicht um Forschungsergebnisse. Es ist frappierend, dass sie immer wieder Reformvorschläge machen, von denen erwiesen ist, dass sie die Ungleichheiten verschärfen."
    Ein gutes Bildungssystem fördert auch das untere Drittel
    Zum Beispiel die Forderung, das "collège unique", also die integrierte Mittelstufe abzuschaffen und Kinder frühzeitig voneinander zu trennen, statt sie länger gemeinsam lernen zu lassen.
    Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der OECD, warnt unermüdlich:
    "Die Bildung von heute ist die Gesellschaft von morgen. Und was man in den ersten Lebens- und Schuljahren nicht bewältigt, das lässt sich später nur sehr schwer korrigieren."
    Der Koordinator der PISA-Studien ermutigt Frankreich schon lange, sich an den gut funktionierenden Schulsystemen im Ausland ein Beispiel zu nehmen. Vielleicht sollten ihn die Politiker mal auf einer Reise nach Asien begleiten.
    "Man kann sagen, dass die 10 Prozent der wirtschaftlich am schlechtesten gestellten Kinder in Shanghai, in China – und das sind Kinder mit Migrationshintergrund, die in ganz schwierigen Verhältnissen wohnen, die Eltern sind Bau- und Straßenarbeiter - diese 10 Prozent können sich in Frankreich mit dem obersten Drittel messen. Das zeigt, wie viel mehr das Bildungssystem aus Menschen aus sozial schwierigen Verhältnissen herausholen könnte."