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Französisch-schweizerische Absinthstraße
Die Legenden von der grünen Fee

Die französisch-schweizerische Grenzregion Val de Travers ist für ihre Legenden rund um die grüne Fee bekannt. Die grüne Fee ist der Geist des Absinths - und soll schon viele in den Wahnsinn getrieben haben.

Von Arkadiusz Luba | 22.03.2015
    Neben dem Wermutkraut sind bis zu 15 weitere Pflanzen im Absinth enthalten.
    Neben dem Wermutkraut sind bis zu 15 weitere Pflanzen im Absinth enthalten. (DENIS MARAUX / AFP)
    "Absinth? Nein, natürlich nicht! Little Weapon. Ich habe Absinth, als ich ein Junge war, getrunken und heute habe ich viele Probleme mit meinem Leben. Das ist nicht gut."
    Ähnlich wie heute bei diesem Kunden des Absinth-Kellers Philippe Chapon in Pontarlier klagte schon der Heilige Johannes in seiner biblischen Offenbarung:
    "Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen. Der Name des Sterns ist Wermut. Ein Drittel des Wassers wurde bitter, und viele Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war."
    Artemisia absinthium – also Wermutkraut – ist eine der ältesten Heilpflanzen der Menschheit. Seit der Antike wird sie als Antiseptikum und gegen Würmer, Fieber sowie Menstruationsschmerzen benutzt. Der charakteristisch bittere Geschmack der Wermut-Pflanze macht den Absinth so unverwechselbar – und zu einem Kultgetränk unter den Kennern. Manchmal mit fatalen Folgen.
    Etwa 25 Absinth-Hersteller in Val de Travers
    So klingen die Kühe, Falken und Steinböcke im Neuenburger Jura der Schweiz. Aus dieser idyllischen Gegend stammt das erste Absinth-Rezept. Es wurde im Jahre 1797 von einer Dame namens Henriot zusammengestellt. Anschließend erwarben es die Besitzer der ersten Absinth-Brennerei – Henri-Louis Pernod und Daniel-Henri Dubied. Heutzutage gibt es in der schweizerischen Region Val de Travers etwa 25 Absinth-Hersteller.
    Großer und kleiner Wermut, Anis, Fenchel, Ysop, Zitronenmelisse und Minze sind die Hauptzutaten des Absinth-Extrakts. Dazu kommen hochprozentiger Alkohol und Wasser. Nach einem knapp zehnstündigen Destillierprozess ist der Absinth-Extrakt fertig.
    Kaum jemand würde ihn jedoch direkt danach trinken. Aus der hochprozentigen Flüssigkeit wird edle Spirituose. Dabei gäbe es keine Grenzen, neue Produkte zu entwickeln, sagt Dominique Rousselet, der größte Absinth-Hersteller in der Region von Pontarlier:
    Der älteste Absinth-Trockner, Boveresse, Schweiz
    Der älteste Absinth-Trockner, Boveresse, Schweiz (Arkadiusz Luba)
    "Eine Flasche Absinth beherbergt bis zu 15 verschiedene Kräuter. Es kommt auch auf die Alkoholsorte an, Zuckerrübe-, Wein- und Kornalkohol. Genau so kann man mit der Farbe variieren. In den destillierten Absinth legen wir zusätzliche Pflanzen ein, woraus eine andere Farbe entsteht, genau wie ein anderer Geschmack."
    Wegen hoher Steuer und Alkoholpreise verließ der erste Absinth-Destillateur Henri-Louis Pernod die Schweiz und ging in das französische Pontarlier. Hier baute er die größte Absinth-Brennerei seiner Zeit. In ihren goldenen Jahren produzierte sie 55.000 Liter Absinth pro Tag. Aus der Medizin wurde eine hochbegehrte Spirituose. Marie-Claude Delahaye, Absinth-Historikerin:
    "Der Absinth war ein Phänomen der vergangenen Epoche. Es fand Zugang in die Kunst und die Politik, Malerei und Literatur, betraf alle Gesellschaftsschichten und deckte alle Lebensbereiche ab. Immer wieder taucht ein spannendes Dokument dazu auf. Es gibt nichts Vergleichbares."
    Vorsicht beim Absinth-Konsum
    Doch mit dem Absinth-Konsum müsse man vorsichtig sein, sagt der Absinth-Experte Nicolas Giger. Man dürfe dabei nicht zu schnell werden:
    "Man muss sehr vorsichtig vorgehen und nicht gleich alles auf einmal verzehren. Das eisgekühlte Wasser sollte man langsam auf den Absinth fallen lassen. Das fertige Getränk sollte sich etwa so entwickeln wie eine Beziehung zu einer Frau."
    Aus einem Wasserbrunnen tropft langsam das eisgekühlte Wasser in den Absinth-Pokal. So bildet sich in der Flüssigkeit ein grüner Dunst. Seine Farbe verdanke er dem hohen Chlorophyll-Gehalt vom Ysop und von dem kleinen Wermut, meint Giger:
    "Und wenn man schon ein paar Runden getrunken hat, könnte man sich vorstellen, dass da eine Fee aus dem Glas steigt."
    Ein 1905 berühmt gewordener Mordfall sorgte dafür, dass Absinth in den meisten Ländern Europas und in den USA verboten wurde. In einem Schweizer Dorf wurde eine ganze Familie von einem Trinker umgebracht. Die Schuld wurde dem Absinth zugeschrieben.
    Auch in der französischen Gesellschaft sorgte das hochalkoholische Getränk für viel Unmut. Um die Jahrhundertwende war es in Frankreich weit verbreitet. Schriftsteller wie Baudelaire und Hemingway, der Maler Picasso und viele anderen ließen sich von ihm berauschen. Van Gogh schnitt sich angeblich unter seinem Einfluss ein Ohr ab und Verlaine schoss Rimbaud an das Handgelenk.
    Absinth-Station in Val de Travers, Schweiz
    Absinth-Station in Val de Travers, Schweiz (Arkadiusz Luba)
    Absinth führte zu Misserfolgen der französischen Truppen in Algerien im Ersten Weltkrieg und zu Potenzproblemen der französischen Männer. Deshalb wurde er 1915 in Frankreich komplett verboten. Wer heimlich produzieren wollte, musste mit Konsequenzen rechnen, erzählt Francois Guy, der in dritter Generation Absinth destilliert:
    "Beim Gesetzesbruch landeten die Destillateure im Gefängnis. Ihre Güter, ihr gesamtes Unternehmen wurden vom Staat konfisziert. Die Strafe war zu hoch, um so etwas zu riskieren. Die Leute hatten Angst und haben die Produktion tatsächlich eingestellt."
    In der Schweiz rebellierte dagegen die grüne Fee und wollte sich dem Verbot nicht unterordnen. Genau wie die Familie Francis Martins aus Boveresse. Der Absinth-Hersteller erinnert sich:
    "Seit 1910 gab es schon immer jemanden in meiner Familie, der den Absinth herstellte. Ich habe den Familienbetrieb von meinem Onkel vor 40 Jahren übernommen. Nachdem es verboten wurde, haben wir den Absinth 95 Jahre geheim hergestellt, bis es 2005 wieder offiziell erlaubt war."
    Verbote schadeten dem Absinth-Mythos nicht
    Der Absinth-Mythos ist dank der Verbote nur noch gewachsen, fügt Phillipe Chapon hinzu, der Vize-Präsident der Vereinigung für die französisch-schweizerische Absinth-Region. Die Leute begehren das, was verboten ist:
    "Das ist tief in der Region verankert. Und heutzutage fühlen sie die ehemalige Epoche wieder. Die alten Absinthgenießer haben empfohlen, sich Zeit zu nehmen, um das Getränk zu trüben. Sie haben langsam die Wasserfontäne rausgenommen und ließen das Wasser Tropfen für Tropfen auf den Absinth fallen. Das war eine Lebensart, die uns heute fehlt und die wir wiederbeleben wollen."
    Seit 15 Jahren organisiert Phillipe Chapon in Pontarlier das Fest des Absinths. Er will aufklären und Klischees aufräumen. Liebhaber und Experten tauschen sich in einer gemütlichen Atmosphäre aus. Eine internationale Jury bewertet jedes Jahr mehrere neue Absinthsorten und vergibt Auszeichnungen. Bei der Bewertung ist die gesamte Komposition wichtig, meint Jurymitglied Martial Philippi:
    Absinth-Flaschen im Musee de l'Absinthe in Motiers, im Neuenburger Val de Travers, Schweiz
    Absinth-Flaschen im Musee de l'Absinthe in Motiers, im Neuenburger Val de Travers, Schweiz (AP Archiv)
    "Jetzt habe ich gerade etwas probiert, von Farbe ohne Wasser war leicht grünlich; von Riechen hat richtig nach Spiritus gerochen, also kein schöner Geruch. Das hat eine schlechte Note für mich. Danach mit Wasser verdünnt, der Geschmack war auch leider weg. Die Trübung war auch nicht besonders schön. Also die ideale Balance riecht nach Pflanzen, dass es nicht nach Spiritus riecht."
    Für die Schweizer Bundesbehörden hat die Aufhebung des Verbots mehrere Vorteile: Das Herstellungsverfahren und die Produktionsmengen werden besser kontrolliert, die Steuereinnahmequellen wachsen. Der Konsum belebt die Wirtschaft. Für den Destillateur Francis Martin gäbe es jedoch nur wenige Momente, an denen er Absinth trinke:
    "Nur wenn Freunde zu Besuch kommen, stelle ich den Wasserbrunnen auf und lasse ein paar Tropfen auf den Zucker fallen. Ich schätze das Beisammensein. Und bei einem Glas Absinth diskutiere ich gerne über die Welt und die Politik."
    In Frankreich noch kein Volksgetränk
    Bei allen Wiederbelebungsversuchen ist der Absinth in Frankreich noch kein Volksgetränk geworden, auch wenn dessen Nebenwirkungen sich auf das Besoffensein begrenzen, meint der Absinth-Experte Philippi:
    "Man soll das unterscheiden: Um 1900 haben Künstler das teilweise mit Opiumtinktur getrunken, sowie Laudaum oder Lekonium. Heutzutage bringt Absinth keine Halluzination. Man kann sich stark betrinken damit, weil es enthält viel Alkohol, aber das Beste ist: Ich trinke zum Beispiel gern drei Gläser und langsam. Ich bin gar nicht betrunken, aber ich fühle mich wohl, habe volle Energie und bin leicht euphorisch. Das ist eine sehr gute Wirkung."
    In Deutschland feierte der Absinth zu Beginn des neuen Millenniums seine Rückkehr in den Szenekneipen in Berlin. Das hiesige Absinth-Depot und sein Inhaber Hermann Plöckl bemühten sich sehr darum, das einstige Kultgetränk unter der europäischen Boheme wieder populär zu machen:
    - "Ich bin misstrauischer Charakter. Und ich habe gelesen, dass es kriminell macht sogar und verrückt. Von dem her würde ich darauf verzichten."
    - "Was mich eigentlich am meisten interessiert, das ist so, dass man von Absinth anfangen soll, zu halluzinieren, was ich eigentlich ziemlich gerne mal ausprobieren wollte."
    Die Legende der grünen Fee lebt. Und spaltet weiterhin das Publikum.