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Französische Studie
Wie sich Muslime vom Terror distanzieren

Muslime distanzierten sich zu selten von Islamisten, lautet ein beliebter Vorwurf. Eine französische Studie zeigt: Die Kritik ist unberechtigt. Auch bei Muslimen, die anfangs darauf beharrten, der Terrorismus habe nichts zu tun mit dem Islam, gebe es ein Umdenken. Besonders in der Pflicht: religiöse Institutionen.

Von Suzanne Krause | 01.03.2018
    Imame beten am 08.07.2017 vor einem Bus mit der Aufschrift _Marsch der Muslime gegen den Terrorismus_ auf dem Prachtboulevard Champs-Élysées in Paris
    Die Champs-Élysées in Paris im Sommer 2017: Imame wollen mit dem "Marsch der Muslime gegen den Terrorismus" ein Zeichen setzen (dpa / Sebastian Kunigkeit)
    Der islamistische Terror stellt die Muslime Frankreichs auf eine Bewährungsprobe. Der Buchtitel fasst das wesentliche Ergebnis der Feldstudie zusammen. In deren Rahmen wurden zahlreiche muslimische Intellektuelle und Geistliche in Frankreich interviewt. Darunter Tareq Oubrou, einer der führenden Imame im Land, ein progressiver Geistlicher aus der Moschee im südwestfranzösischen Bordeaux. Für Oubrou ist klar, welcher Muslim öffentlich auf Terrorakte reagieren müsse.
    "Es ist zu unterscheiden, ob es sich um einen muslimischen Bürger oder um einen muslimischen Geistlichen handelt. Ein muslimischer Bürger muss als Staatsbürger reagieren und basta. Eine religiöse Institution hingegen oder jemand, der als öffentlicher Ansprechpartner im religiösen Bereich auftritt, hat zu einem Terrorangriff Stellung zu beziehen. Die religiöse Institution muss die Themen Gewalt, Verbrechen und so weiter ansprechen."
    Initiativen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen
    Dieser Verpflichtung seien Muslime in Frankreich nachgekommen, heißt es in der Studie. Geleitet wurde sie von Vincent Geisser. Geisser ist Soziologe und Politologe sowie Experte für die arabische und muslimische Welt. Mit zwei Projektkollegen weist er nach: Die weitverbreitete Meinung, die Muslime hätten zur Attentatswelle in Frankreich, in Europa geschwiegen, ist eine Mär.
    "Wir haben festgestellt, dass die Muslime keineswegs in Stille und Starre verharrt sind. Ganz im Gegenteil. Bei unserer Studie stießen wir auf zahllose Belege für ihre Reaktionen. Das reicht von Pressekommuniqués, in denen der Terrorismus verdammt wird, über die Organisation von Kundgebungen, teils gemeinsam mit anderen Religionen, Märsche für den Frieden, gegen die Gewalt, bis hin zu Aktionen "Offene Tür' in den Moscheen, bei denen die Muslime klarstellen möchten, dass sie den Frieden lieben und mit den Dschihadisten nichts gemeinsam haben."
    Initiativen, die in der Öffentlichkeit kaum je wahrgenommen werden. Das gilt auch für die Texte von Muslimen zu den Terrorakten im Land. Dabei zeugen diese Texte von einem Umdenken.
    "Die Terrorakte haben einen gewissermaßen heilbringenden Effekt erzielt: Sie zwangen Muslime, die anfangs darauf beharrten, der Terrorismus habe nichts zu tun mit dem Islam, zuzugeben, dass es doch irgendwie Gemeinsamkeiten geben könnte und dass es nötig sei, das Wort zu ergreifen und einen Gegendiskurs zum Dschihadismus zu entwickeln."
    Vincent Geisser spricht von einer neuen "Gegenwehr-Theologie".
    "Terrorist ist nicht gleich Muslim" steht übersetzt auf einem Schild, das ein Demonstrant in Toulouse hochhält
    "Terrorist ist nicht gleich Muslim" - Plakat bei einer Demonstration in Toulouse im Jahr 2015 (AFP / Remy Gabalda)
    "Um der Theologie, die den Terrorismus und die Attentate der Terrororganisation Islamischer Staat legitimiert, die Stirn zu bieten, setzen muslimische Akteure in Frankreich und Europa nun darauf, die Argumente des IS auf religiöser Ebene auseinanderzunehmen."
    Die Terrorakte bedeuteten einen Krisenmoment - auf den die Muslime keineswegs in einheitlicher Manier reagierten, hebt die Studie hervor.
    "Wir haben es vielmehr zu tun mit französischen, deutschen und belgischen Bürgern muslimischen Glaubens, von denen jeder auf seine Art auf den Terrorismus reagiert. Ältere werden eher den Koran zitieren, um den Terrorismus zu verdammen. Jüngere gehen mit der Nationalflagge auf die Straße und sagen: Wir sind Muslime und Franzosen, wir lieben unser Land und sind gegen Terroristen, die uns heimsuchen. Wieder andere äußern sich kritisch und sagen: Der Islam hat nichts zu tun mit dem Terrorismus, aber wir sind die ersten Opfer des Ausnahmezustands. Kurzum: In dramatischen Momenten spitzt sich manches zu, das erlaubt einen klareren Blick auf die Verhältnisse."
    Tendenz zur individuellen Glaubenspraxis
    Die Studie bringt weitere Erkenntnisse ans Tageslicht. Der Islam in Frankreich, in Europa würde mehr und mehr sehr individuell und lokal praktiziert und gelebt. Muslime fühlten sich immer weniger zu religiösen Vereinen und Organisationen hingezogen. Das wirft die Frage auf, mit welchem Recht die Kultus-Institutionen den Anspruch vertreten, Fürsprecher der Muslime im Land zu sein, auch dem Staat gegenüber. Bislang waren alle Mühen vergeblich, eine islamische Struktur als staatlicher Ansprechpartner aufzubauen. In Kürze will Staatspräsident Emmanuel Macron seine Ideen zu einer Organisation des Islam in Frankreich präsentieren. Ein Projekt, das noch keineswegs ausgereift ist. Forscher Vincent Geisser fürchtet, dass Macron von falschen Vorstellungen ausgeht.
    "Staatspräsident Macron hat keine angespannten Beziehungen zum Islam, er hat im Wahlkampf nicht auf die Furcht vor dem Islam gesetzt. Aber seine ersten Vorschläge zu einer Organisation des Islam in Frankreich klingen wie aus längst vergangenen Tagen. Wie aus der Epoche der dritten Republik, als der Staat die Juden assimilieren wollte, mittels der Einführung des Postens eines Großrabbiners, einer zentralen Synagoge."
    Der Gedanke einer Zentralisierung jedoch laufe, sagt der Forscher, den heutigen Befindlichkeiten bei den Muslimen Frankreichs diametral entgegen.
    Die Studie biete Stoff für Lehren, versichert Vincent Geisser, die nicht nur für Frankreich interessant seien.
    "Angesichts des Terrorismus, der heute Europa, vor allem Frankreich und Deutschland heimsucht, ist es wichtig, den einheimischen Muslimen die Gelegenheit zu geben, sich zu Wort zu melden. Je mehr man ihnen eine öffentliche Bühne gibt, desto besser gelingt es ihnen, auf Distanz zu gehen zum Terrorismus, ihn zu verurteilen und so auch ihre französischen oder deutschen Mitbürger zu beruhigen."