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Französischer Linkspolitiker fordert Abkehr vom Sparkurs

Der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon hält den Sparkurs der Euro-Länder in der Schuldenkrise für falsch. Eine solche Politik führe zu einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Sozialausgaben, kritisierte er.

Jean-Luc Mélenchon im Gespräch mit Christoph Heinemann | 28.09.2012
    Christoph Heinemann: Die französische Regierung stellt heute ihren Haushalt für 2013 vor, der Sparmaßnahmen und umfangreiche Kürzungen bei den Staatsausgaben vorsieht. Frankreich muss ein Haushaltsloch von mindestens 30 Milliarden Euro stopfen, um, wie versprochen, das Defizit im kommenden Jahr auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu drücken. Dagegen gibt es Widerstand.
    Vor dieser Sendung haben wir mit Jean-Luc Mélenchon gesprochen, dem Chef der Linkspartei "parti de gauche", welche die Sparpolitik ablehnt. Wir haben ihn gerade in Schwierige Haushaltsverhandlungen in Frankreich (MP3-Audio)Ursula Welters Bericht gehört, für Sonntag hat die Partei zu Demonstrationen gegen den europäischen Fiskalpakt aufgerufen, der die Regierungen zu künftiger Haushaltsdisziplin verpflichten soll. Ich habe Jean-Luc Mélenchon gefragt, wieso Frankreich außen vor bleiben sollte, während beinahe alle europäischen Staaten tief greifende Reformen eingeleitet haben.

    Jean-Luc Mélenchon: Alle Länder, die einen Austeritätskurs eingeschlagen haben – alle, ohne Ausnahme -, haben eine Explosion der Arbeitslosigkeit und der Sozialausgaben erlebt. Für Deutschland besteht kein Grund zur Zufriedenheit: Ein beträchtlicher Teil der aktiven Bevölkerung lebt trotz Arbeit an der Schwelle zur Armut. Diese Politik ist absurd. Sie führt nirgendwo hin, außer zu einem neuen großen Desaster in Europa. Und das hat schon begonnen. Sie sehen es in Griechenland - und in Spanien geht es gerade los. Wir müssen aus diesem Albtraum aussteigen, aus dieser engstirnigen Denkweise der deutschen CDU/CSU-Regierung, die ihrer Verantwortung gegenüber Europa in keiner Weise gerecht wird. Das ist eine Politik in engen Grenzen, die uns in ein Desaster führt.

    Heinemann: Halten Sie Angela Merkel für ein Monster?

    Mélenchon: Nein, sie ist eine Politikerin vom rechten politischen Spektrum. Sie betreibt eine engstirnige und sehr dogmatische Politik. In der Vergangenheit verhielten sich die deutschen Regierungen sehr pragmatisch. Wir hatten den Eindruck, dass sie es verstanden, sich den Umständen anzupassen, und dass sie zu Korrekturen bereit waren. Frau Merkel ist unnachgiebig. Sie beharrt auf ihrem Kurs, auch wenn diese Politik zu einem Misserfolg führt. Die deutsche Regierung hat in brutaler Weise und oft beinahe grobschlächtig darauf bestanden, dass die Griechen das umsetzen, was ihnen auferlegt wurde. Und alle sehen, dass Griechenland 20 Prozent seiner Produktionsfähigkeit eingebüßt hat. Nun könnte man erwarten, dass man den Griechen schon allein aus Pragmatismus gestattete, einmal durchzuatmen. Aber nein, Frau Merkel wendet weiterhin dasselbe Rezept an, das für Griechenland das Ende oder die soziale Explosion bedeutet. Aber wer will das? Niemand!

    Heinemann: Gibt es eine sozialere Politik als die eines ausgeglichenen Haushaltes, wenn man den Handlungsspielraum bedenkt, den man damit erwirbt?

    Mélenchon: Ein ausgeglichener Haushalt ist machbar. Aber wie? Eine erste Lösung besteht darin, dass man nicht die Sozialausgaben verringert oder die Ausgaben für den öffentlichen Dienst, der das Leben für alle verbessert. Stattdessen sollte man die Kosten der Schulden zurückfahren. Es ist doch nicht normal, dass die Europäische Zentralbank den privaten Banken Geld leiht, die das anschließend den Staaten leihen. Besser wäre es, wenn die Zentralbank direkt Anleihen der verschiedenen Staaten aufkauft. Man hält uns das Inflationsrisiko entgegen: Die Europäische Union ist größter Produzent, Verkäufer und verfügt über die größte Geldmenge. Die Vereinigten Staaten von Amerika liegen dahinter. Die Vereinigten Staaten kaufen die eigenen Schuldentitel auf und seit Langem verfügen sie über einen negativen Zinssatz. Gegen alle Vernunft, denn sie sind unendlich viel höher verschuldet als die Europäische Union. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Diejenige, die gewählt wurde, ist die schlechteste: Verringerung der öffentlichen Ausgaben. Die langfristigen Kosten sind hoch: weniger Kinder mit guter Ausbildung. Weniger Gesundheitsfürsorge. Morgen haben wir dann mehr Leute, die nichts gelernt haben, und mehr Kranke und damit weniger produktive Kapazitäten.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit Jean-Luc Mélenchon, dem Chef der französischen Linkspartei "parti de gauche". - Der Fiskalpakt ist eine Gegenleistung im europäischen Handel: Frankreich übt mehr Haushaltsdisziplin, Deutschland mehr Solidarität - do ut des ...

    Mélenchon: Mit dieser Darstellung bin ich überhaupt nicht einverstanden. Deutschland akzeptiert nur die Solidarität, die seinen Interessen entspricht. Der Europäische Stabilitätsmechanismus, wenn Sie dies bitte zur Kenntnis nehmen wollten, verpflichtet auch Frankreich. Man sollte diese Arroganz etwas zurückfahren, die in dem Glauben liegt, nur die deutsche Regierung und das deutsche Volk wären die großzügigen Spender für den Rest von Europa. Da täuschen Sie sich. Die Franzosen sind Teil des Europäischen Stabilitätsmechanismus, und wenn ich mich nicht irre, sind wir die zweiten Beitragszahler. Die Deutschen sollten aufpassen, dass sich durch ihr Benehmen nicht alle Welt gegen sie richtet. Der Europäische Stabilitätsmechanismus ist kein Gefallen, der den Deutschen getan worden wäre. Es ist insofern ein Gefallen für die großen Banken, als im Gegenzug für diesen ESM eine schreckliche Austeritätspolitik eingeleitet wurde, die alle europäischen Nationen ins Desaster führt. Ihre Bewertung der wahren Natur dieser Maßnahmen ist ausgesprochen schlecht.

    Heinemann: Stichwort Bewertung: Die Journalistin Sophie Pedder, Paris-Korrespondentin der Wochenzeitung "The Economist", hat ein Buch unter dem Titel veröffentlicht: "Die französische Verweigerung - die letzten verwöhnten Kinder Europas". Beunruhigt Sie diese Sicht von außen nicht?

    Mélenchon: Nein, oder nur, weil sie eine Form der Arroganz und der Verachtung offenbart.

    Heinemann: Für Sie sind alle arrogant?

    Mélenchon: Nein, überhaupt nicht. Ich möchte Sie an die Arbeiten des Nobelpreisträgers Joseph Stieglitz und anderer Preisträger erinnern, die - so wie ich - zu dem Schluss gelangen, dass die Austeritätspolitik, die die rechte deutsche Regierung will, ganz Europa ins Desaster führt. Ich sehe nichts bei der deutschen Regierung und den Ergebnissen der Deutschen, das Nachahmung verdiente. Die Franzosen sind überhaupt keine verwöhnten Kinder. Die Franzosen halten den Weltrekord der Arbeitsproduktivität. Wir haben unsere eigene Lebensart, die uns große Erfolge beschert hat, ohne anderen in unserer Umgebung zu schaden.

    Heinemann: Gleichzeitig verliert Frankreich seit Jahren Weltmarktanteile.

    Mélenchon: Sie sind schlecht informiert. Frankreich verliert Weltmarktanteile, seitdem die deutsche Regierung uns einen lächerlich hohen Eurokurs aufgezwungen hat, um die Einkünfte vor allem der kapitalgedeckten Renten in Deutschland zu schützen. Seitdem der Euro viel mehr wert ist als der Dollar, was gut ist für die Bezieher von Kapitaleinkünften, verlieren wir Anteile am Weltmarkt. Da Frankreich Waren der gesamten Produktpalette herstellt und sich nicht - wie das leider der Fehler der Deutschen ist - auf die verarbeitende Produktion konzentriert, wirft uns die Wechselkurspolitik automatisch zurück, die absurd und nicht vereinbar ist mit unseren nationalen Interessen.

    Heinemann: Daniel Cohn-Bendit, sicher kein Rechter, hat die Tür bei den französischen Grünen zugeschlagen, nachdem sich die Führung der Partei gegen den Fiskalpakt ausgesprochen hat. Wie bewerten Sie den Schritt des "roten Daniel"?

    Mélenchon: Sie sind der Einzige, der Dani für einen 'Roten' hält. Tatsächlich ist er ein ausgesprochen blasser Grüner, der Meinungen vertritt, die näher am Zentrum sind als bei der Linken in Frankreich. So kennen wir ihn jedenfalls. Aber vielleicht ist für Sie in Deutschland das Zentrum ja schon die extreme Linke.

    Heinemann: Das war Jean-Luc Mélenchon, der Vorsitzende der französischen Linkspartei.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.