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Französischer Wahlkampf und die Kultur
Politik braucht Mitgefühl

Eine Rückkehr des Realen als zentrale Aufgabe des Theaters: Das fordert der neue Leiter des Odéon-Théâtre de l'Europe, Stéphane Braunschweig. So wie er, kritisieren viele Regisseure und Intellektuelle die aktuelle Bühnenlandschaft. Sie kritisieren aber auch die Politik. Dieser fehle vor allem eines: Mitgefühl.

Von Eberhard Spreng | 31.03.2017
    Blick auf das Théâtre de l'Odéon in Paris, Frankreich. Davor sitzen Menschen auf einem Platz an Tischen.
    Das Odéon-Théâtre de l'Europe in Paris: Marine Le Pen und ihre Parteikollegen vom Front National haben angekündigt, die Kulturzuschüsse zu kürzen, sollten sie an die Regierung kommen. (picture alliance / dpa / Friso Gentsch)
    Auf der Webseite des Théâtre du Soleil war vor Kurzem noch eine bedeutungsschwere Frage zu lesen: "Wie können wir vom Chaos der Welt sprechen, ohne ein Teil von ihm zu werden, also ohne all dem noch weiteres Chaos hinzuzufügen?" Wie kann die Kunst immun bleiben gegen den Virus eines beschleunigten Verfalls gesellschaftlicher, kultureller und menschlicher Verbindlichkeiten? Ariane Mnouchkine über Frankreich vor der Wahl:
    "Die Politiker wissen nicht, dass auch Politik eine Form braucht. Womit wir es aber heute zu tun haben, ist eine völlig formlose, banale, hoffnungslose Variante der Politik."
    Während der Kandidat der Rechten, François Fillon, aus den Skandal-Schlagzeilen gar nicht mehr herauskommt, ist in einem Pariser Theater ein Stück der Wahlberlinerin und Goncourt-Preisträgerin Marie NDiaye zu sehen. "Honneur à notre Èlue" – "Ehre unserer Wahlsiegerin" ist eine ironische Wahlkampffabel. Im Zentrum eine sehr beliebte junge Politikerin, die ihre Karriere trotz großer Erfolge in den Dreck wirft, um sich einer grundlegenden Lebenslüge zu stellen.
    Der neue Leiter des Odéon–Théâtre de l'Europe, Stéphane Braunschweig, hält denn auch die Rückkehr des Realen für eine zentrale Aufgabe des Theaters.
    "Wir brauchen ein Theater, das die Augen öffnet, denn wir leben in einer Welt der permanenten Wirklichkeitsleugnung. François Fillon lebt im Zustand des dauernden Abstreitens. Er kriegt nicht einmal mehr mit, dass ihn inzwischen alle für einen Verrückten halten."
    Wahlkampf vor einer Art düsteren Historiengemälde
    Nach der Wahl von Donald Trump und dem Brexit-Votum findet der französische Wahlkampf wie vor einem verdüsterten Historiengemälde statt, in dem zudem als Menetekel die Möglichkeit einer Präsidentin Marine Le Pen aufflammt. Der Front National will die Kultursubventionen zurückfahren und die Kunst einem Volks-Mäzenatentum überlassen. Stéphane Braunschweig.
    "Es gibt das Vorhaben, die Kultur zu zensieren. In allen Kommunen, in denen der Front National das Bürgermeisteramt eroberte, hat die Partei die Kulturinstitutionen und deren Leiter attackiert, eigene Leute benannt und so weiter. Die Kultur macht ihnen Angst, ganz klar!"
    Vor allem in der Provinz haben rechte Wähler, übrigens nicht nur des Front National, mit den als etabliert und systemtragend diffamierten Institutionen gebrochen, auch mit den Kulturinstitutionen. Regisseur Dominique Pitoiset erlebt gerade bei der großen Tournee des Brechtstücks "Der Aufhaltsamen Aufstiegs des Arturo Ui" die gespenstische Erfahrung des Beifalls von der falschen Seite: Rechte Zuschauer, die auf die Sprüche der Hitlerallegorie Arturi Ui mit spontanem Applaus reagieren. Der Schauspieler auf der Bühne wird mit einem Demagogen auf
    Traditionelle Abmachungen zwischen Bühne und Zuschauerraum sind stellenweise aufgehoben, Künstler und Publikum einander entfremdet. Der mit Theaterarbeit in der Provinz vertraute Pitoiset wagt Kollegenschelte.
    "Was die Künstler betrifft, leben wir in einem Paradox. Es gibt nicht so viele, die sich auf dem Feld der Politik bewegen. Manchmal erscheint es wichtiger, am eigenen künstlerischen Werk zu arbeiten, als sich der Realität zu stellen. Deshalb sind im Moment auch viele Theaterhäuser in der Provinz völlig abgetrennt von der lokalen Wirklichkeit ihrer Kommunen."
    Das neue Phänomen der horizontalen Kommunikation
    Der Theateraltmeister und Regisseur zahlreicher Aufführungen, in denen Entwicklungen der französischen Gesellschaft reflektiert wurden, Jean-Pierre Vincent, analysiert die digitale Entwicklung. In den sozialen Netzwerken, in Facebook und Twitter sieht er Phänomene für die Erosion der traditionellen, politischen, vertikal verlaufenden Kommunikation. Das neue Phänomen der horizontalen Kommunikation sei weder von der politischen Klasse noch vom Kulturbetrieb verstanden worden. Aber wie könnten Künstler helfen, eine bedrohte historische Kulturleistung der westlichen Welt vor dem Untergang zu bewahren: die Demokratie? Ariane Mnouchkine:
    "Das ist leichter gesagt als getan. Vor allem, weil die Politiker die Staatsbürger verachten. An deren Vernunft wird viel zu wenig appelliert. Appelliert wird an niedere Instinkte. Denn, wollte man an ihre Vernunft appellieren, so müsste man sie zuvor informieren. Wirklich informieren.
    Aber auch wir Künstler arbeiten an Emotionen. Wie schaffen wir es, sie nicht zu pervertieren? Das Mitgefühl zum Beispiel befähigt uns, den Schmerz des Anderen zu verstehen. Eine wirklich große Politik braucht das Mitgefühl. Wer meint, ohne diese emotionale Grundlage auszukommen, ignoriert die menschliche Natur."