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Frau Merkel müsste mal "über eine Regierungsneubildung" nachdenken

Die Koalition sei mit einem blauen Auge davon gekommen, meint Gerd Langguth. Der Kanzlerin legt er eine personelle Umstrukturierung ans Herz - und denkt dabei auch an die Herren Merz und Koch.

01.07.2010
    Meurer: Joachim Gauck – am Telefon begrüße ich den Bonner Politikwissenschaftler Gerd Langguth. Er war gestern Gast der Bundesversammlung, hat auf der Tribüne im Reichstag zugeschaut. Guten Tag, Herr Langguth.

    Gerd Langguth: Guten Tag, Herr Meurer!

    Meurer: Wie lebendig haben Sie gestern die Demokratie in der Bundesversammlung erlebt?

    Langguth: Ja, das war doch sehr lebendig, auch manche versteinerten Gesichter, manche Freude. Es war doch einfach so, dass es einen Ausgang der Wahl gibt, den in dieser Deutlichkeit viele so nicht vorhergesehen haben. Und dass da nicht drei Parteivorsitzende einfach sagen, so, den machen wir zum Kandidaten, und dass das dann einfach so ohne Weiteres läuft, das ist vielleicht demokratietheoretisch auch mal eine ganz gute Erfahrung, die viele in der Öffentlichkeit machen, obwohl man natürlich umgekehrt auch sagen muss, ein Teil der Versteinerung der Gesichter ist natürlich gerechtfertigt, denn diejenigen FDP-Abgeordneten, die vorher schon gesagt haben, wir wählen nicht Wulff, sondern Gauck, die haben das ja mit offenem Visier getan. Manche sind eben mutig, dann, wenn sie es ganz klandestin, unbeobachtet in der Wahlkabine machen können.

    Meurer: Diejenigen, die das unbeobachtet gemacht haben, die bezeichnet die FDP als "chaotisierende Elemente". Aus der Union kommt der Vorwurf, das war kein Teamspiel. Stört die Regierenden die Demokratie beim Regieren?

    Langguth: Das ist natürlich in der Tat so, dass wir so was noch nicht hatten, dass bei einer geheimen Wahl ein solches Abstimmungsergebnis war, und sicherlich gibt es eine Fülle von Gründen. Das Problem ist nur, dass da sich die Damen und Herren nicht outen. Weiß man nicht, waren es Bundestagsabgeordnete, waren es Leute aus den Ländern, waren auch FDP-Leute darunter, oder nur Unionsleute. Nur eines ist sicher: Das war meines Erachtens ein Signal von vielen, die gesagt haben, diese Kakofonie, wie wir sie jetzt in den letzten Monaten auf Bundesebene erlebt haben, die darf nicht so fortgehen. Und denken Sie daran: Im nächsten Jahr gibt es in Deutschland sechs Landtagswahlen und eine Reihe von Kommunalwahlen, und da sehen natürlich manche schon mit einer gewissen Furcht diesen entgegen.

    Meurer: Wie Sie das formuliert haben, klandestin, unbeobachtet, war da Feigheit im Spiel bei denen, die gegen Wulff gestimmt haben?

    Langguth: Ja, das ist schon - - ich finde es zumindest demokratietheoretisch auch ein Problem. Andererseits ist es natürlich auch das Ergebnis einer politischen Kultur auch in Parteien, in denen ja Widerspruch wenig geduldet wird. Es ist ja so, dass natürlich bei Fraktionssitzungen bei normalen Fraktionen es ja das Recht des Abweichlers gibt. Es heißt ja zu Recht, dass der Abgeordnete nur seinem Gewissen unterworfen ist. Aber dann hat er normalerweise ja die Aufgabe, das vorher seinem Fraktionsvorsitzenden kundzutun und das anzuzeigen, dass er abweichender Meinung ist, und dann würde es auch respektiert werden.

    Meurer: Wären Sie dafür, dass die Bundesversammlung nicht mehr geheim abstimmt? Dann wird es aber auch langweiliger werden, dann hätten wir das vermutlich nicht erlebt.

    Langguth: Nein. Ich muss Ihnen aber sagen, ich bin ganz offen der Meinung, wir brauchen die geheime Wahl auch weiterhin, weil, es stärkt eher den einzelnen Delegierten. Das betrifft dann aber auch die Wahl des Bundeskanzlers, der Bundeskanzlerin, oder auch die Wahl von Ministerpräsidenten. Es gibt ja auch Kollegen von mir, die sagen, die geheime Wahl ist überflüssig. Ich finde, sie zwingt ja diejenigen, die Vorschläge machen, auch solche Vorschläge zu machen, die möglichst auch konsensorientiert sind.

    Meurer: Der Tag danach, nach der spektakulären Bundesversammlung. Wie sehr hat dieser Tag die Koalition beschädigt?

    Langguth: Man kann sagen, sie ist gerade noch mal mit einem blauen Auge davon gekommen, denn Wulff hat ja eben doch auch gerade sogar noch die absolute Mehrheit bekommen, wenn auch nicht alle Delegierte dann ihn gewählt haben. Wenn Gauck gewählt worden wäre, dann wäre es das große Desaster schlechthin gewesen, dann hätte meines Erachtens Merkel auch die Vertrauensfrage im Bundestag stellen müssen. Aber das Ganze ist jetzt ein großer Zeigefinger in Richtung von Frau Merkel und den beiden anderen Parteivorsitzenden, denn wenn sie so weitermachen, wenn auch Frau Merkel ihre Führungskunst nicht gelegentlich überdenkt, dann wird das jetzt übrigens auch in der vor uns liegenden Sommerpause jedenfalls weiterhin Probleme in der öffentlichen Wirkung machen, und da bin ich sicher, dass, wenn es so weitergeht, Frau Merkel in ihrer Wiederwahl jedenfalls in dreieinviertel Jahren gefährdet ist. Aber es gibt kein vorzeitiges Ende der Koalition. Das glaube ich nicht, denn da gibt es ja auch keine Mehrheit im Bundestag gegen die jetzige Koalition.

    Meurer: Was meinen denn diejenigen womöglich, die mit dem Zeigefinger auf die Kanzlerin und Parteivorsitzende zeigen?

    Langguth: Na ja, es ist zunächst die Frage: Ist Frau Merkel die Seele der Partei? Es gibt viele, gerade an der Parteibasis, die sagen, sie ist eine pragmatische, unideologische Reformpolitikerin, Problemlöserin, aber sie vertritt unsere Position nicht so richtig. Das ist so ein allgemeines Gefühl der Unzufriedenheit, da kommt vieles dazu. Man will auch stärker wissen, wohin soll die politische Reise mit ihr gehen. Dann ist die Frage der Abstimmung auch der Minister untereinander, dann ist es das Gefühl der Unsicherheit, das durch die Euro-Krise gekommen ist. Und dann muss man natürlich auch eines sehen: Der Rücktritt des Bundespräsidenten a.D. Köhler hat natürlich auch die politische Atmosphäre in Deutschland doch völlig durcheinandergewirbelt, und das wird natürlich alles bei der Kanzlerin abgeladen, die jetzt auch noch mit der Schuldenbremse zu tun hat, und das, was jetzt die Schuldenbremse ist und das Sparpaket ist, war vielleicht, kann man vergleichen, für Gerhard Schröder die Agenda 2010. Jetzt muss Merkel endlich einmal das machen, was etwas Unpopuläres ist. Bisher hat sie ja in ihrer Zeit als Bundeskanzlerin weitgehend immer die Mehrheit der Bevölkerung getroffen und sie hat die Fähigkeit, deren Positionen zu erkennen und sich auch entsprechend zu orientieren. Jetzt muss sie sich auch mal mit schwierigen Fragen in die Minderheit begeben, und zu sparen ist ja nichts, was die Menschen gerne mögen.

    Meurer: Jetzt hat die Kanzlerin in wenigen Wochen drei ganz wichtige Konkurrenten verloren, die als mögliche Kanzler gehandelt wurden: Roland Koch hört auf, Jürgen Rüttgers ist abgewählt worden, Christian Wulff ist sozusagen ins Schloss Bellevue wegkomplementiert worden. Haben wir die paradoxe Situation, Herr Langguth, dass Frau Merkel ausgerechnet dann schwach ist, nachdem sie alle Konkurrenten aus dem Weg geräumt hat?

    Langguth: Ja, aber das hängt natürlich auch damit zusammen, dass es jetzt, wie Sie es auch gerade schildern, zu einer Verarmung des politischen Personals der Union führt. Die Union hatte ja immer gerade deshalb eine so relativ starke Stellung in der Bevölkerung, weil sie viele Flügelpersonen aufweisen konnte, die mal mehr konservative, mehr liberale, oder mehr Arbeitnehmerpositionen vertreten haben. Diesen Typus von Flügelleuten gibt es eben immer weniger. Gut, es gibt jetzt manche, die Roland Koch Krokodilstränen nachweinen, auch bei den Journalisten, die Koch nie wählen würden, aber Koch ist natürlich zweifelsohne schon eine hochinteressante und eine Ausnahmepersönlichkeit, auch von dem gesamten Wissen und Informationen und Erfahrung her.
    Ich bin ja persönlich der Meinung, Frau Merkel müsste versuchen, mal über eine Regierungsneubildung nachzudenken und nachzudenken, ob sie nicht doch Roland Koch zum Beispiel versuchen könnte zu gewinnen, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Ich bin sogar der Meinung, das halten viele für unpolitisch, aber in dieser schwierigen Ausnahmesituation müsste sie sogar mal versuchen, wieder den Kontakt zu Friedrich Merz aufzunehmen. Das ist vielleicht unpolitisch, wenn man sagt, dass er wieder zurückkehren könnte in die Politik, aber Merkel muss irgendetwas Tapferes tun. Wenn sie das nicht tut, dann schlingert die Regierung so weiter vor sich hin und dann ändert sich nichts.

    Meurer: Der Bonner Politikwissenschaftler Gerd Langguth nach einer bewegenden Bundesversammlung gestern bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk. Herr Langguth, schönen Dank und auf Wiederhören!

    Langguth: Danke. Gruß nach Köln!

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