Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Frau mit Doppelleben

Luis Bunuel hat in "Belle de Jour” Cathérine Deneuve als Ärztin gezeigt, die heimlich als Prostituierte arbeitet. Auch Marianne Faithful hat als "Irina Palm" zugelangt. Im neuen Film der Niederländerin Nanouk Leopold ist es Sandra Hüller, die für eine solche Doppelleben-Geschichte die perfekte Wahl darstellt.

Von Christoph Schmitz | 30.06.2011
    Flirrend, kristallin, amorph klingt die Filmmusik von "Brownian Movement". Sphinxhaft umspinnt sie die hell ausgeleuchteten Bilder der Lust einer jungen Frau. Und dennoch verraten die Klänge nichts über ihre Gedanken, Gefühle und die Gründe ihres eigenwilligen Verhaltens. Auch geredet wird nicht viel, fast gar nicht, und wenn, dann kurz und unbeholfen, nach Worten suchend. Die verbale Kommunikation wird schnell beiseite geschoben, weil sich niemand viel davon erwartet.

    Rätselhaft wie Musik und Sprache ist der ganze Film von Nanouk Leopold. Vor allem die Bilder. Obwohl die Kamera so unendlich viel Geduld hat mit den weiten leeren Innen- und Außenräumen der Großstadt und mitunter minutenlang in einer Einstellung verharrt. Viel Zeit gibt uns die Regisseurin, um die kühl, streng, minimalistisch möblierte Wohnung der Ärztin Charlotte zu betrachten. Den entblößten schlanken Körper, ihr Gesicht mit dem akkurat hochgebundenen blonden Haar. Aber enträtseln lässt sich nichts, nur vermuten.

    Dabei ist die Geschichte recht konkret. In der heimlich gemieteten Zweitwohnung empfängt Charlotte ihre Liebhaber. Es sind nicht gerade die schönsten Männer. Eigentlich sind sie grottenhässlich. Fettleibig, verpickelt, affenartig behaart. Einen größeren Kontrast kann es kaum geben als zwischen deren tierischer Körperlichkeit und der Anmut der Frau. Das ist die obsessive Seite von Charlotte.

    Die andere ist die der Ehefrau und Mutter. In einer holzgetäfelten Akademikerwohnung lebt sie mit Kind, das sie fürsorglich betreut, und überaus attraktivem und liebenswertem Ehemann, was ihre Obsessionen noch rätselhafter macht. Als Ärztin ist sie erfolgreich und sucht sich ausgerechnet in ihrer Klinik die Liebhaber aus, weswegen sie später, als das Doppelleben auffliegt, die Approbation verliert. In einer psychotherapeutischen Sitzung versucht Charlotte ihr Verhalten zu erklären:

    "Natürlich, ich weiß! Aber wie soll ich ... Ich denke, ich meine, wenn ich ... Wenn, wenn ... "

    Das Animalische der Männerkörper scheint für Charlotte die Quelle ihres Interesses und ihrer Lust zu sein - oder auch nicht? Die virilen Leiber inkarnieren das Gegenteil der aseptischen Klinikwelt und der geordneten privaten Lebensverhältnisse - möglicherweise. Psychopathologische Hinweise liefert der Film überhaupt nicht. Charlottes Finger durchforschen die Körperbehaarung der schlafenden Männer fast neugierig. Ihre Hände wiegen die Fettwülste der Bäuche, scheu, beinahe staunend. Kein Ekel ist dabei, eher Zuneigung - oder doch nicht?

    All diese und mehr Bedeutungen spielen über das Gesicht der Frau, das in Großaufnahmen ausgiebig von der Kamera befragt wird. Sandra Hüller als Charlotte zeigt ein gleichzeitig zurückgenommenes und lebendiges Mienen- und Körperspiel, das alles sagt, aber nichts verrät. Das ist der Gipfel der Schauspielkunst.

    Regisseurin Nanouk Leopold erzählt, aber erklärt nie. Das ist Stil und Haltung eines ungewöhnlichen Films, der den Betrachter jede Sekunde beschäftigt. Der Titel, "Brownian Movement", liefert die ästhetische DNA. Das Phänomen der Brownschen Bewegung ist benannt nach dem 1857 verstorbenen schottischen Botaniker Robert Brown. Er hatte beobachtet, dass sich Pollen und anorganische Teilchen in wässrigen Lösungen bewegen, wobei die Bewegung nicht aus den Teilchen selbst stammt, sondern durch die umliegenden Moleküle verursacht wird. Das aber konnte Brown nicht sehen.

    Man kann nicht alles sehen, erkennen, verstehen, das meint jedenfalls Nanouk Leopold - oder nicht? Spannend ist diese Offenheit allemal. Auch wenn Charlotte, samt Mann, Kind und neuen Zwillingen nach Indien zieht und ihr Doppelleben endet, scheinbar. Das Rätsel des Films um die Frau bleibt.