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Frauen am Fenster

Die Kritik nannte sie "die wichtigste Schriftstellerin am Anfang der modernen japanischen Literatur": Higuchi Ichiyo. Sie wurde 1872 in Tokio geboren und spätestens durch die Erzählung "Solange sie ein Kind war" einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Nach dem Erzählungsband liegt nun ein weiteres Buch der Japanerin vor. Es sind klare, fast existentialistisch anmutende Erzählungen, deren Heldinnen sich nach der großen Liebe sehnen.

Von Peter Urban-Halle | 02.03.2009
    Die längste Geschichte in diesem Erzählungsband der Japanerin Higuchi Ichiyo - die Japaner nennen den Familiennamen an erster Stelle - heißt "Solange sie ein Kind war". Sie entstand 1894 und spielt im Vergnügungsviertel Tokios, in Yoshiwara. Heldin ist Midori, ein Mädchen zwischen Kind und Frau, sie fühlt sich zu einem schüchternen jungen Mann hingezogen, aber ihre Beziehung endet, ehe sie überhaupt angefangen hat, weil Nobuyuki dann in eine Klosterschule geht - auf Wunsch des Vaters, eines dicken, ziemlich laxen buddhistischen Tempelpriesters. Das Moderne an der Geschichte sind die Assoziationsketten und weitschweifigen Exkurse, die lockere Abfolge von Szenen und Gesprächen, die Momentaufnahmen einer uns sehr fremden, aber geheimnisvoll attraktiven Welt.

    Generell herrschen im Yoshiwara-Viertel andere Bräuche als andernorts. Hier findet man kaum Frauen, die den Obi, die Schärpe ihres Kimonos ordentlich hinten festbinden. Es mag ja noch angehen, wenn ältere Frauen grelle Muster bevorzugen oder einen überbreiten Obi nur locker umlegen, aber beim Anblick von naseweisen, erst fünfzehnjährigen Mädchen, die auf Hozuki-Blüten herumkauen, möchte man am liebsten wegschauen - doch so geht es im Vergnügungsviertel eben zu.
    Higuchis Epoche ist die sogenannte Meiji-Periode, die zeitlich ungefähr mit dem Deutschen Kaiserreich zusammenfällt, damals verwandelte sich das feudale Japan in eine moderne imperiale Großmacht. Das heißt aber auch, dass hergebrachte Formen verschwinden, besonders in Amüsiervierteln wie Yoshiwara, die Erzählerin zeigt ihre Empörung, wir fühlen aber auch die Verlockung, die von diesen halbwüchsigen, provozierenden Mädchen ausgeht. Etwas freilich fehlt hier nun völlig: das Bewusstsein der Sünde. Yoshiwara ist kein Sündenpfuhl. Zwar wollen die Kunden nicht gern erkannt werden, und die Tochter eines Priesters sollte auch nicht unbedingt der Unterhaltung der Männer dienen, andererseits ist das Kurtisanengewerbe nicht als besonders liederlich anzusehen, ja, um manche Frauen war es geradezu schade, heißt es, "wenn aus ihnen nichts weiter wurde als eine ganz gewöhnliche Ehefrau".

    Higuchi benutzt die klassische Schriftsprache, hat aber vor allem in den Dialogen erstmals umgangssprachliche Töne einfließen lassen, das hört sich in Michael Steins Übersetzung allerdings furchtbar unbeholfen an, die Jugendlichen reden wie Holzpuppen. Als der schlimmste Schläger einer Straßenbande einen Kumpel rekrutieren will, spricht er wie eine Mischung aus Raoul Schrott und Johann Heinrich Voß über die Schlacht bei Issos:

    Ich bin jedenfalls entschlossen, beim diesjährigen Fest eine gewaltige Keilerei zu veranstalten und es denen nach Strich und Faden heimzuzahlen! Und deshalb möcht' ich dich als echten Freund bitten, dass du uns unterstützt. Auf, sei nicht so! Mach mit, verpassen wir dem Shotaro eine Lektion!
    Higuchis kürzere Erzählungen klingen gleich viel besser, vielleicht weil sie weniger Dialoge haben. In der Titelgeschichte, nur zwölf Seiten lang, spricht eine Frau mit sich selbst. Sie denkt an ihren Mann, einen Stahlarbeiter, der Überstunden machen muss, weil sie eben Nachwuchs bekommen haben. Es ist Winter und bitterkalt, sie öffnet ein Fenster und blickt auf den "Mond über dem Dachfirst des Hauses gegenüber". Sie zittert, aber vielleicht doch nicht nur wegen der beißenden Kälte, denn unvermittelt entfährt ihr ein Seufzer, und nun spricht sie nur noch von dem Herrn, bei dem sie einst Dienstmädchen war und der ihr pausenlos verliebte Briefe schreibt - aber was heißt das schon bei solchen Herrn! Das Für und Wider, die inneren Kämpfe, die Zerrissenheit zwischen Pflichtgefühl und Verlangen, das kann sich beinahe mit Goethes "Werther" messen. Am Schluss, ganz leicht im Ton, ein ebenso entschiedenes wie verzweifeltes Ende:

    Ohne eine Träne zu vergießen, ohne sich einen Ruck geben zu müssen, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, mit Händen, die nicht zitterten, riß sie alle Briefe, vom ersten bis zum allerletzten, in kleine Fetzen und warf sie, einen nach dem andern, in die Glut, die hell aufloderte. Nichts blieb davon übrig als Asche, und der Rauch stieg empor und verlor sich im Nachthimmel.
    "Wie schön, mein Herz ist von allen Fesseln befreit!"
    Während sie dem Rauch nachblickte, wehte der Wind über jenen Dachfirst hin, über dem der Vollmond stand, und sein Rauschen klang rein.

    Man könnte Seiten über diese kurze Geschichte schreiben: über das Miteinander von Lebenskampf und Herzensnot, über die Kraft der Dinge und die Kraft der Vorstellung, über die endlose Trauer in der Erleichterung, über das Rätsel des Lebens, dessen Lösung man hier sehr nahe kommt. "Mond überm Dachfirst" ist eine Meistererzählung, die in ihrer klaren Sprache und existentiellen Kraft an Erzählungen von Cesare Pavese oder Hjalmar Söderberg erinnert.

    Immer stehen Frauen im Mittelpunkt von Higuchis melancholischen Erzählungen, deren Liebessehnsucht aber nicht erfüllt wird oder die schreckliche Reue empfinden - wie in der Erzählung "Ein Schneetag", in welcher der Schnee, statt alles zuzudecken, den Schmerz gerade freilegt. Und zwischendurch immer diese zauberhaften, rätselhaften Sätze, die Ichiyo Higuchi wie unbewusst in ihre Geschichten streut. "Alles, was ich getan habe, war falsch", sagt die reuige Tama im "Schneetag", "ich habe versucht, eine mir unbekannte Melodie zu bewahren."

    Higuchi Ichiyo: Mond überm Dachfirst. Erzählungen. Aus dem Japanischen und mit einem Nachwort von Michael Stein.
    Manesse Verlag, Zürich/München 2008. 320 Seiten, 19,90 Euro.