Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Frauen in der DDR
Permanent am Limit

Frauen waren in der DDR nach zwei neuen Studien nicht gleichberechtigt. Sie wurden zwar in die sozialistische Arbeitswelt integriert, stiegen aber selten auf und wurden schlecht bezahlt. Ihr Leben war oft eine Mehrfachbelastung: Arbeit, Haushalt, Kinder.

Von Isabel Fannrich | 20.10.2016
    Sie sehen einige Frauen in Dresden 1974, davor Kinderwagen und viele Kleinkinder.
    Frauen in Dresden 1974. (imago / Ulrich Hässler)
    "Sechzehn Uhr, da kommst du aus dem Tor, du willst zum Kindergarten.
    Du holst dort dein Kleines ab, ja, es wird schon auf dich warten."
    "Wenn man nicht eine Oma hat oder irgendwelche Verwandten, die einem die Hälfte abnehmen, kannst Du nicht drei Kinder haben, nicht in der DDR drei Kinder haben, einen Neun-Stunden-Arbeitsplatz - oder achteinhalb war's ja dann - ausfüllen, die Besorgungen machen für den Alltag, wo es nichts gibt, wo du wirklich rennen musst, anstellen, anstellen, wo du keinen Klempner kriegst. Das geht nicht auf Dauer, da gibt es einen Riesenverschleiß."
    "Da passiert's. Die kleinen Beine kommen nicht mehr mit. Ein Bordstein bringt sie aus dem Tritt.
    He, junge Mutti, warum schlägst du denn dein Kind."
    Anders als im Lied des DDR-Blues-Sängers Jürgen Kerth wird über die große Anstrengung von Frauen in der DDR bis heute wenig gesprochen. Stattdessen hält sich hartnäckig der Mythos ihrer Gleichberechtigung. Um an diesem zu rütteln, dreht die DDR-Bürgerrechtlerin und Publizistin Freya Klier derzeit den Film "Wenn Mutti früh zur Arbeit geht". Darin erzählt sie, wie die Frauen mit ihrer Mehrfachbelastung durch Arbeit, Haushalt und Kindererziehung umgegangen sind.
    Was will ich eigentlich in meinem Leben?
    "Sie haben das gemacht, was die meisten Menschen machten: Sie sind mit getrottet, mit gelatscht, haben gelitten. Neurosen gab's nicht bei den Ost-Frauen, die hatten gar keine Zeit dafür. Die hatten Krampfadern, faltige Hände und waren totmüde abends. Die sind umgefallen. Die Frauen hatten keine Zeit mehr, über sich nachzudenken: Wer bin ich? Was will ich eigentlich in meinem Leben?"
    Die Lücke in der Wahrnehmung will auch Anna Kaminsky schließen. Die Geschäftsführerin der "Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" legt diesen Monat die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung vor. Für das Buch "Frauen in der DDR" haben ihre eigenen Erfahrungen den Ausgangspunkt gebildet.
    "Tausend kleine Dinge / Machen erst das Leben schön
    Viele kleine Dinge / Machen es erst angenehm."
    "Ich weiß immer noch, mit wie viel Neid und Bewunderung viele Freundinnen meiner Mutter sich die Werbungen im Westfernsehen angeguckt haben für vollautomatische Waschmaschinen. Und bei uns und denen in der Küche rumpelte noch die WM 66 und daneben stand auf einem Hocker die Schleuder."
    "Drum geben wir / Heut einen gutgemeinten Rat
    Schau Dich doch mal im Konsum um / Was man dort alles hat."
    Westlich der innerdeutschen Grenze verfügten die Frauen, die mehrheitlich nicht arbeiten gingen, über modernste Haushaltsgeräte. Östlich davon besaßen bis Ende der 1960er Jahre über 60 Prozent der Haushalte zumindest eine Waschmaschine, eine Schleuder, einen Kühlschrank oder einen Staubsauger.
    Dieselben Rechte - anders als in der BRD
    Anders als in der Bundesrepublik hatten die Frauen in der DDR bald nach dem Zweiten Weltkrieg dieselben Rechte wie die Männer. Ihre Gleichberechtigung wurde bereits in der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der ersten DDR-Verfassung 1949 festgelegt. Die Frauen verdienten ihr eigenes Geld und waren wirtschaftlich unabhängig. Dennoch hat Anna Kaminsky…
    "…eine sehr kritische Sicht auch auf das, was Gleichberechtigung von Frauen betrifft. Das aus meiner Sicht eine Gleichberechtigung auf Kosten der Frau war - und zwar vor allem eine Gleichberechtigung als Arbeitskraft. Und viele andere Bereiche spielten weder politisch noch von theoretischen Überlegungen her eine große Rolle. Sondern man verließ sich schon darauf, dass die Frauen das schaffen."
    Eine komplette Kaufhalle samt Verkäuferinnenpuppe steht am 06.11.2014 in Radebeul (Sachsen) im 2006 eröffneten DDR-Museum "Zeitreise".
    Arbeiten, Einkaufen, Familie: Nach dem Vollzeitjob wartete die "zweite Schicht" auf viele Mütter. (picture alliance/Matthias Hiekel/ZB)
    Um die Situation der Frauen zu beurteilen, muss nach der Zeit, dem Lebensort und ihrem Beruf gefragt werden. So ging es in den ersten beiden Jahrzehnten sozialpolitisch darum, die Frauen verstärkt in die Erwerbsarbeit einzubinden - fehlten doch die im Krieg gefallenen Männer, aber auch die vielen Menschen, die der DDR bis zum Mauerbau den Rücken kehrten.
    Ende der 1950er-Jahre arbeiteten bereits 56 Prozent der Frauen. Erst in den 60er-Jahren startete die SED eine Qualifizierungsoffensive, wie die Soziologin Hildegard Maria Nickel schildert.
    "Und das war die Phase, in meiner Wahrnehmung, die am stärksten auf wirkliche Gleichberechtigung gerichtet war, weil da auch Männer angesprochen worden sind. Beispielsweise in Werbeslogans, wo dann auch so eine kritische Perspektive, also nicht nur die Frau soll da den Staubsauger durch die Wohnung bewegen, sondern der Mann."
    Frauen verdienten wesentlich weniger
    Obwohl bereits früh das Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" galt, und die Frauen in Männerberufen willkommen waren, haperte es an der Umsetzung ihrer Gleichberechtigung. Sie verdienten bis zum Ende der DDR wesentlich weniger. Trotz ihrer Ausbildung blieben die meisten von ihnen auf untergeordneten Positionen und in Frauenberufen, deren Lohnniveau unter dem der klassischen Männertätigkeiten lag.
    Noch 1988 verdienten fast doppelt so viele Frauen wie Männer lediglich unter 700 DDR-Mark monatlich. Die mittleren Gehaltsgruppen bis 1.000 Mark beherrschten sie mehrheitlich. Bis zu 1.500 Mark pro Monat aber erzielten mehr als doppelt so viele Männer. Anna Kaminsky:
    "Ich würde nicht mal so weit gehen zu sagen, dass Frauen in ökonomischer Hinsicht gleichberechtigt waren, also nicht mal das. Sobald es darum ging, dass Frauen in Führungspositionen kommen sollten, dass Frauen verantwortungsvolle Arbeiten im Bereich der Wirtschaft übernehmen sollten, dass sie Führungsstellen hatten, da sieht es dann sehr trübe aus."
    Die DDR erreichte ihr Ziel: Ende der 60er Jahre arbeiteten bereits 80, vor dem Mauerfall mehr als 90 Prozent der Frauen. Dass sie auch hier nicht häufig über die gläserne Decke hinaus kamen, hängt nach Meinung von Hildegard Nickel damit zusammen, dass die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit, Haushalt und Familie überwiegend das Problem der Frauen blieb:
    "Selbst wenn die technische Berufe erlernt hatten, sind viele Frauen, wenn nicht gar die meisten, in eher traditionelle Frauenberufe ausgewichen, weil es da dann günstiger war, auch mal einen Tag zu Hause zu bleiben, weil das Kind krank ist."
    Besser qualifiziert, stärker integriert, autonomer
    Deshalb spricht die emeritierte Professorin lieber von einem Gleichstellungsvorsprung der Ost- gegenüber den Westfrauen - einem nach der Wende etablierten Begriff.
    "Weil Fakt ist, Frauen aus der DDR waren im Vergleich zu Westfrauen besser qualifiziert, stärker in die Berufsarbeit integriert, waren auch autonomer sozusagen nach Ehescheidung. Es gab in dem Sinne einen Gleichstellungsvorsprung, den viele Frauen dann so wahrgenommen haben: Wir sind gleichberechtigt. Sie wollten damit natürlich doch auch deutlich machen, wie stark sie waren, gerade weil sie das alles unter einen Hut gekriegt haben."
    Die verschobene Selbstwahrnehmung, wie Nickel es nennt, verstärkte sich durch verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen. Bis 1965 galt die Sechs-Tage-Woche. Danach mussten Frauen und Männer 43 Stunden an fünf Tagen arbeiten. Mütter mit drei und mehr Kindern wurde ab 1972 eine 40-Stunden-Woche gewährt, vier Jahre später profitierten auch Frauen mit zwei Kindern von dieser Regelung. Pro Monat konnten sie einen Haushaltstag in Anspruch nehmen.
    Dennoch verstärkte die Sozialpolitik die traditionelle Rollenverteilung, kritisiert Nickel. Ein Großteil der Frauen strebte nicht die beruflichen Positionen der Männer an. Allerdings wurde von ihnen erwartet, gute Berufstätige, gute Mütter und Partnerinnen zu sein, ständig in Fortbildung und in gesellschaftlichen Organisationen aktiv - und schön auszusehen.
    Nach dem Vollzeit-Job die "zweite Schicht"
    "1971/72 ist ja dann noch mal so eine Rolle rückwärts gemacht worden, würde ich sagen. Da ging es dann sehr stark um diese Vereinbarkeitspolitik, also eine Sozialpolitik, die die Vereinbarkeit von Berufsarbeit und Mutterschaft fördert. Also es ging nicht um Elternschaft, sondern es ging um die Vereinbarkeit, die Frauen da organisieren sollen. Männer konnten sich zurücknehmen und das war sozusagen nicht ihr Problem."
    Die Frauen in der DDR waren permanent am Limit, sagt die Wissenschaftlerin. Nach dem Vollzeit-Job, den die meisten hatten, kam die so genannte zweite Schicht. Für Haushalt und Kindererziehung veranschlagte das Institut für Bedarfsforschung 1965 rund 50 Stunden wöchentlich, eine zeitliche Belastung, die sich bis zum Mauerfall nicht wesentlich veränderte.
    Wie gingen die Frauen damit um, die - zum Teil in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus sozialisiert - erneut ein radikal verändertes Frauenbild erlebten?
    "Man muss sich auch den Frauentyp der 40er, 50er, 60er Jahre anschauen, auch der 70er Jahre, wie die erzogen worden sind. Man hält den Mund, man leidet, man duldet und man schafft das. Man beschwert sich nicht. Also viele der Frauen haben dann auch bei sich selbst den Fehler gesucht. Die waren der Meinung, alle erklären, das ist zu machen, es gibt doch ganz viele Erleichterungen. Und die konnten auch sehen, dass es hier und da diese Erleichterungen gab. Und dann schafft man das nicht."
    "Würdest verrückt wenn ihm was passierte, trotzdem haust du ihm eine rein."
    "Wir sind für den frühen Anfang"
    Nach Ansicht von Freya Klier haben die Ost-Frauen bis heute auch das Thema Kindererziehung verdrängt. Damit sie arbeiten gehen konnten, baute der Staat die Kinderbetreuung flächendeckend aus.
    Um pünktlich zur Arbeit zu kommen, mussten die Mütter ihre Kinder morgens vor 6 Uhr wecken. Als Mitte der 80er Jahre Betriebe vorschlugen, den frühen Arbeitsbeginn von 6.15 Uhr nach hinten zu verschieben, lehnten die Frauen ab:
    "Die überwiegende Mehrheit der Frauen hat gesagt, nein, wir sind für den frühen Anfang, sonst schaffen wir den Haushalt nicht. Die Kinder spielten keine Rolle. Das heißt, wir haben über diese 40 Jahre DDR eigentlich das Bedürfnis des Staates, die Gesamterziehung frühzeitig in die Hand zu kriegen, das war realisiert bei den meisten."
    Schulalltag in der DDR - Schüler im Unterricht an der 6. Polytechnischen Oberschule Karl-Friedrich-Schinkel in Berlin
    Schulalltag in der DDR. (Imago / Seeliger)
    Heidi Bohley ging einen anderen Weg. Die Gründerin des "Vereins Zeitgeschichte(n)" in Halle entschied damals, ihr Kind nicht dem staatlichen Erziehungssystem anzuvertrauen. Obwohl 1973 kurz nach der Geburt ihrer Tochter unerwartet ihr tschechischer Lebensgefährte verstorben war. Da war sie 23.
    "Uns war's wirklich darum zu tun, dass wir die Erziehung nicht aus der Hand geben. Wir wollten da jetzt einfach weiterhin die maßgebliche Instanz sein für unsere Kinder. Also dass man in so einer Abwehr war: zum Beispiel nein, mach ich nicht, Krippenplatz: Will ich mein Kind vor schützen. Also sich eine innere Unabhängigkeit zu erarbeiten. Und damit stieß man an Grenzen."
    "So eine Frühstücksrunde in der Bibliothek"
    Sie schloss sich einem privaten Kinderladen in einem Abrisshaus in Halle an. Der Gründer wurde später verhaftet und ihr selbst, als sie einen staatlichen Krippenplatz ablehnte, die finanzielle Unterstützung gestrichen.
    Gleichberechtigung sei deshalb für sie damals gar kein Thema gewesen, erzählt Heidi Bohley. Auch nicht, als sie später an der Unibibliothek eine Weiterbildung zur Bibliothekarin machen konnte:
    "Wir hatten auch so eine Frühstücksrunde in der Bibliothek, wo auch die Frauen so saßen. Die Frauen haben das nicht als einen Akt von Gleichberechtigung wahrgenommen, dass sie arbeiten gehen können. Sondern das war vollkommen klar, dass das Geld nicht reicht, wenn nur einer verdient. Also das war schon so konzipiert, dass die Frauen arbeiten mussten, um da einigermaßen über die Runden zu kommen."
    In den 1980er Jahren engagierte sie sich in der Gruppe "Frauen für den Frieden". Der Konflikt zwischen Individuum und Staat blieb deshalb im Vordergrund. Dieser Druck - etwa der Verlust eines Arbeitsplatzes - habe auf Männern und Frauen gleichermaßen gelastet.
    Paschas und Machos
    "Ich habe dann sozusagen die Karriere nach unten gemacht und war dann nicht mehr erpressbar. Das war dann einfach ein Stück Freiheit, innere Freiheit, die man sich dann da genommen hat. Und das war viel entscheidender, als ob wir jetzt gleichberechtigt sind. Im Nachhinein muss man sagen, dass wir mit ganz schönen Paschas und Machos verheiratet waren, was aber damals gar nicht so ins Gewicht fiel, weil man sich gemeinsam gewehrt hat."
    Wie gingen die Frauen mit ihrer ambivalenten Situation um? Sie wurden, so die Expertinnen, selbstbewusster. Einerseits schrieben sie wütende Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden oder die SED-Bezirkspolitiker. Andererseits forderten sie von ihren Partnern mehr Unterstützung. Die Zahl der Scheidungen stieg in den Jahren nach dem Mauerbau. In den 70er Jahren wurde jede vierte, in den 80ern jede dritte Ehe meist auf Wunsch der Frau geschieden.
    In den Städten lassen sich höhere Zahlen feststellen, war doch das Frauen-Leben hier anstrengender als auf dem Land, erzählt Freya Klier. Die Wege zwischen Wohnung, Krippe, Kindergarten und Arbeit nahmen mehr Zeit in Anspruch, die Kinderbetreuung begann hier bereits wenige Monate nach der Geburt, und die Verwandten wohnten nicht gleich um die Ecke.
    "Du sagst hinterher tut's dir selbst oft leid. / Man ist eben auch so nervös."
    "Die schleuderten viel stärker in dieser Gesamtproblematik der Zwei- und Dreifach-Belastung in den Städten. Weswegen die Abtreibungsquote exorbitant hoch ist, vor allem in den Städten. Und da bleibt einem schon die Luft weg. Und auch viel höher als wir das denken heute."
    Abtreibungswelle bis zum Mauerfall
    Ein Schwangerschaftsabbruch als Ausweg aus der Überforderung? Das Statistische Jahrbuch der DDR belegt für das Jahr 1972, als dieser Eingriff straffrei gesetzlich erlaubt wurde, eine Zahl von 114.000. Demgegenüber standen rund 197.000 Geburten. In den folgenden Jahren sank die Zahl der Abbrüche zwar, blieb aber bis Mitte der 1980er Jahre bei jährlich über 90.000.
    Die Abtreibungswelle, wie Freya Klier sagt, dauerte bis zum Mauerfall an. Die Filmemacherin deutet sie - neben einer Zahl weiterer Gründe - als Zeichen der Überlastung…
    "..., dass Frauen das überhaupt gar nicht geschafft haben. Das ist eins der einfachsten - in Anführungsstrichen - Mittel gewesen, diese ganze Kalamität, diese Überlast, von sich zu werfen, zu sagen: Ich will kein Kind haben. Oder ich will nur eins haben."
    Bis zuletzt löste die SED das Vereinbarkeitsproblem nicht. Der Stress durch Beruf und Haushalt blieb ein Thema - für die gesamte Familie.