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Frauen verzweifelt gesucht

Nichtregierungsorganisationen schätzen, dass unter 1000 Abtreibungen in Indien nur fünf männliche Föten sind. Die gezielte Tötung weiblicher Föten zieht auch ein demographisches Drama nach sich. Immer mehr heiratswillige Männer finden niemanden, mit dem sie eine Familie gründen könnten.

27.01.2007
    1994 stellte die Regierung die pränatale Geschlechtsdiagnose unter Strafe. Ärzten droht der Entzug der Approbation und das Gefängnis sollten sie die Ergebnisse der Ultraschalluntersuchung preisgeben. Für die Männer im heiratsfähigen Alter kommt diese Regelung allerdings zu spät: Eine Reportage von Guillaume Decamme.

    Seit über einer Stunde verfolgt Ved Prakash die Radio-Übertragung des Cricketspiels, das Indien gegen England bestreit.

    "Ein wichtiges Match", meint der wortkarge Mann und widmet sich voll und ganz dem Spiel, als gäbe es nichts wichtigeres als Cricket auf der Welt. Gibt es auch nicht. Ved Prakash lebt in Rotak, 100 Kilometer westlich von Neu-Delhi. Er ist 35 Jahre alt und immer noch Junggeselle.

    "Ich bin jetzt zu alt. Welche Frau würde mich noch heiraten wollen? Meine Zeit ist um."

    Ved Prakash hat zehn Jahre lang nach einer Braut Ausschau gehalten. Seine zahlreichen Brüder, Verwandten, Freunde und sogar die Nachbarn
    haben bei der Suche mitgeholfen. Vergeblich.

    "Ich habe keine Arbeit. Ich habe nie eine gehabt. Wenn ich eine Stelle, vielleicht nur einen Nebenjob gehabt hätte, wäre ich mit diesen Problemen bestimmt nicht konfrontiert worden. Hier gibt es sowieso keine Frau. Jedenfalls keine, die ich heiraten könnte. Ich hätte gern geheiratet. Zu jedem Mann gehört schliesslich eine Frau. Wir sind auf Erden, um uns fortzupflanzen. Der Mann ist wie eine Blume. Solange er keine Frau gefunden hat, kann er nicht blühen. Man kann nicht ewig allein bleiben. "

    An diesem Nachmittag hat sich bei Ved Prakashs Nachbar Besuch angekündigt. Sunnil hat für die Besucherriege Tchai zubereitet - Tee mit einer grosszügigen Portion Milch und Zucker. Dem 28 Jährigen geht es sehr gut. Vor drei Wochen hat er eine Stelle als Busfahrer gefunden. Alles wäre doch wunderbar, plagte Sunnil nicht eine ernsthafte Sorge.

    "Ich bin nicht verheiratet. Hier ist es sehr schwer, eine Frau zu finden. Aber ich habe noch Hoffnung. Wenn mir jemand von einer ledigen Frau erzählen würde, die in einer anderen Region lebt, wäre ich bereit, die Fahrtkosten zu übernehmen, um sie hierher zu holen. Mich würde es nicht stören, wenn sie aus einem anderen Kulturkreis käme. Ich könnte sogar eine Amerikanerin heiraten."

    Ved Prakash und sein Nachbar Sunnil sind in Rotak keine Einzelfälle. Solche Geschichten gibt es im 2000-Seelen-Städtchen hundertfach. Denn in Rotak und im ganzen Bundesstaat Haryana sind Frauen im Heiratsalter eine Rarität. Auf den leergefegten Strassen trifft man - wenn überhaupt - fast nur auf Frauen im vorgerückten Alter.

    Shankar Rahmans Haus liegt am Dorfeingang. Von seinem Wohnzimmerfenster aus hat er den besten Blick auf Rotaks Hauptstrasse. Sunnil und Ved Prakash kennt er genauso gut wie alle anderen "Bachelors" - die unverheirateten Männer, denen das Zölibat wie ein Schandfleck anhaftet. Doch, meint Shankar Rahman, dürfe ihr Junggesellen-Dasein nicht ihnen selbst angelastet werden.

    "Indien ist ein Männerland. Es sind die Männer, die alle Entscheidungen treffen. Frauen haben nur das Recht zu schweigen. Sie werden viel weniger respektiert als Männer. Wenn eine Frau heiratet, muss sie eine möglichst üppige Mitgift mitbringen, sonst ist sie in den Augen der Bräutigamfamilie nicht viel Wert. Das kostet ihre Eltern viel Geld. Einem Familienvater bringt eine Tochter also nichts ausser Kosten und Sorgen. Heute aber haben die künftigen Eltern dank Ultraschalluntersuchungen die Möglichkeit, das Geschlecht des Kindes festzustellen. Wenn eine Frau erfährt, dass sie ein Mädchen auf die Welt bringen wird, ist sie manchmal geneigt, das Kind abtreiben zu lassen."

    Das "manchmal" hat sich in den vergangenen 25 Jahren in ein "oft" verwandelt. Denn mit der Einführung der Geschlechtsbestimmung per Ultraschall Anfang der 80er Jahre hat die gezielte Abtreibung weiblicher Föten dramatisch zugenommen - mit dem Ergebnis, dass Frauen, die heute im Heiratsalter wären, das Licht der Welt gar nicht erst erblicken konnten.

    Am gravierendsten ist der Frauenmangel in den nordindischen Bundesstaaten Punjab und Haryana - da wo Rotak liegt. Laut der jügsten Volkszählung kommen dort auf 1000 Männer lediglich 800 Frauen. Zwar ist in ganz Indien pränatale Geschlechtsbestimmung seit 1994 verboten. Bewirkt hat das aber wenig.

    Obwohl sie es ungern zugibt, ist Iashvanti Badvar eine emanzipierte Frau. Sie leitet das staatlich geförderte Sozialzentrum in Rotak. "Aufklärungsunterricht", nennt sie die zweistündigen Kurse, die sie den Frauen der Region in Sachen Emanzipation erteilt. Dabei versucht sie werdende Mütter davon zu überzeugen, dass Mädchen genauso wertvoll sind wie Jungen. Eine ganz und gar unmögliche Aufgabe - hört man sich Iashvanti Badvars eigene Biografie an.

    "Ich habe vier Töchter und einen Sohn. Kurz nach der Geburt meiner zweiten Tochter bin ich wieder schwanger geworden. Mein Mann hat mir gesagt, ich sollte mich einer Ultraschall-Untersuchung unterziehen. Ich konnte nicht "nein" sagen. Also bin ich zum Frauenarzt gefahren und er hat festgestellt, dass ich wieder ein Mädchen erwarte. Mein Mann war entrüstet. Er wollte, dass ich das Kind abtreibe. Wir haben uns fürchterlich gestritten, aber ich habe es behalten. Darauf hin habe ich meinem Mann gesagt: "Wir werden vielleicht bis zum siebten Kind warten müssen, aber ich werde Dir einen Sohn gebähren. Doch solange ich Mädchen erwarte, werde ich sie bestimmt nicht abtreiben lassen." Zum Glück war mein drittes Kind ein Junge. "

    Iashvanti Badvar ist die Resignation deutlich anzuhören. Diese Haltung gefällt Sabu George gar nicht. Als Wissenschaftler am "Center for Women's Development Studies" in Neu-Delhi hat er die Kampagne "Save the girld child - rettet die Mädchen" initiiert.

    "Geschlechterdiskriminierung hat es in Indien immer gegeben. Im Bundesstaat Punjab kommen seit über hundert Jahren nur 900 Mädchen auf 1000 Jungen. Aber das Problem hat sich noch verschärft als die ersten Ultraschall-Geräte eingeführt wurden. Frauenärzte haben dann angefangen sehr aggressiv für die Abtreibung weiblicher Föten zu werben. Indem sie ungeborene Mädchen töten, behaupten sie, dem Land einen Dienst zu erweisen. Frauenärzte trichtern ihren schwangeren Patientinnen ein, dass Mädchen eine Bürde sind. Ihnen geht es nur ums Geld. Die Abtreibung ungeborener Mädchen ist zur Industrie geworden. Jedes Jahr werden damit 100 Millionen Dollar umgesetzt."
    Sabu George nennt erschreckende Zahlen. Laut seinen eigenen Untersuchungen dürften in den letzten 20 Jahren etwa viereinhalb Millionen indische Mädchen den Machenschaften skrupelloser Frauenärzte zum Opfer gefallen sein.

    Zurück in Shankar Rahmans Wohnzimmer in Rotak. Seine Tochter Shueka hat das Gespräch mit angehört. Shueka ist 14. Sie ist Shankars einziges Kind. Nur gute Noten bringe sie nach Hause, erzählt er stolz. In drei Jahren wird ihr Vater beginnen, einen Ehemann für sie zu suchen. Dem entgegnet die junge Frau ein müdes Lächeln. Denn Shueka hat andere Pläne. Eine Ehefrau-Existenz im Provinznest Rotak gehört bestimmt nicht dazu.

    "Ich möchte Ingenieurin werden. Dafür werde ich wohl umziehen müssen. Hier in Rotak gibt es keine Arbeit und auch keine Zukunft für mich."