Freitag, 19. April 2024

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Frauenbewegung in der Türkei
"Gewalt und Morde an Frauen nehmen stetig zu"

Um Gleichberechtigung und die Stellung der Frau in der Gesellschaft steht es in der Türkei schlecht. Nach wie vor seien Gewalt und Morde an Frauen, die in den vergangenen Jahren stetig zugenommen hätten, ein "sehr, sehr großes Thema", sagte die Professorin und Turkologin Yasemin Karakasoglu im Dlf.

Yasemin Karakasoglu im Gespräch mit Bettina Köster | 08.03.2018
    Rücken einer Frau mit Leitspruch auf dem T-Shirt
    Frauen demonstrieren auf dem Taksim Platz gegen die Verhältnisse für Frauen in der Türkei (imago / Florian Schuh)
    Bettina Köster: Heute ist internationaler Frauentrag, das heißt, das ist der Tag, an dem Frauen auf der ganzen Welt für ihre Rechte auf die Straße gehen. Auch in der Türkei – dort gab es schon im vergangenen Jahr einen feministischen Nachtmarsch. Daran beteiligten sich rund 40.000 Menschen, obwohl er verboten war. Sich für Frauenrechte einzusetzen, ist in der Türkei nicht ungefährlich. Viele müssen damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen, wenn sie ihre Vorstellungen zu Emanzipation laut propagieren. Trotz dieser Bedrohungslage gibt es verschiedene Frauenbewegungen in der Türkei, die Professor Yasemin Karakasoglu mit ihrem Team untersucht hat. Ich fragte sie, ob auch in diesem Jahr wieder so viele Frauen unterwegs waren in der Türkei.
    Yasemin Karakasoglu: Ja, genau, wieder startend vom Taksim, dem zentralen Platz in Istanbul, der eine hohe politische Bedeutung auch hat, weil er auch besonders unter der Beobachtung der Regierung steht. Man wird sich erinnern an die Gezi-Proteste, die auch dort in dem Umfeld, in dem Rahmen stattgefunden haben, also auch genauso wieder hat ein entsprechender Nachtmarsch stattgefunden.
    Widerspruch der türkischen Regierung
    Köster: Was wird denn gefordert in diesem Jahr?
    Karakasoglu: Es ist nach wie vor das sehr, sehr große Thema der Gewalt an Frauen, die Morde an Frauen nehmen in den letzten Jahren stetig zu. 200 bis 300 Morde an Frauen durch Männer, meist aus dem engsten Umfeld, finden statt, und das ist ein großes gemeinsames Thema für die Frauen in der Bewegung, für die unterschiedlichen politischen, ideologischen Ausrichtungen die da durchaus versammelt sind unter einem zentralen Denken oder mit zentralem Grundthema der Gleichberechtigung für Frauen in der Türkei. Das wird weiterhin ein großes Thema sein, und eben die Tatsache, dass es da einen Widerspruch gibt zwischen dem Handeln gegenüber Frauen in der Regierung, dem gewalttätigen, auch Zerschlagen von entsprechenden Versammlungen auf der einen Seite und auf der anderen Seite ein Lippenbekenntnis der Regierung, sich gegen die Gewalt gegen Frauen einsetzen zu wollen.
    Porträt der Bremer Professorin Yasemin Karakasoglu
    Yasemin Karakasoglu kritisiert die türkische Regierung für ihre Haltung in Frauenfragen (imago / Seitz)
    Köster: Jetzt haben Sie ja mit Ihrem Team zusammen sich die Frauenbewegung genauer angeschaut. Sie haben eben schon gesagt, es geht in erster Linie auch gegen Gewalt gegen Frauen. Was sind sonst so die Themen der Frauenbewegung in der Türkei?
    Karakasoglu: Die Themen der Frauenbewegung sind vor allen Dingen die Stellung der Frau in der Gesellschaft, der Zugang zu Bildung, der Zugang zu Arbeit, die gleichberechtigte oder die gleiche Bezahlung für Frauen und das Selbstbestimmungsrecht von Frauen, die, wie ich eben schon sagte, dieses Thema der Gewalt ist ein sehr großes Thema, und natürlich die politische Mitwirkung, die politische Partizipation von Frauen.
    Politisch-ideologisch Unterschiede
    Köster: Wie unterscheiden sich jetzt dann die einzelnen, ich sage mal: Szenen, oder wie würden Sie sie bezeichnen?
    Karakasoglu: Ja, wir haben tatsächlich davon gesprochen in unserem Projekt, dass es unterschiedliche Bewegungen gibt, weil es durchaus politische, ideologische Unterschiede gibt, in denen sich Frauen zusammenschließen zu einer religiös-konservativen Bewegung, zu einer LGBTQI-Bewegung, zu einer eher kemalistisch-laizistischen Frauenbewegung oder zu der eher sozialistisch-kommunistischen Frauenbewegung, zu diesen Kreisen. Es gibt da durchaus politisch-ideologisch Unterschiede, die sich sehr deutlich festmachen etwa an der Vorstellung von Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
    Während die linke Bewegung und auch die kemalistische Frauenbewegung von einer grundlegenden Vorstellung, dass Frauen und Männer einfach als grundlegend in allen Bereichen der Gesellschaft gleichberechtigt zu behandelnde Personen, Menschen behandelt werden müssen, davon ausgehen, geht die religiös-konservative Bewegung stark davon aus, dass Frauen in der Gesellschaft unterschiedliche Rollen, Funktionen, aber auch in ihrem Wesen verschiedene Fähigkeiten und Möglichkeiten haben und auch haben sollten und da sehr stark die Frau im Kontext von Familie sehen, während die anderen nun gerade diese Unterordnung von Frauen unter den Aspekt der Familie stark kritisieren und die Frauen als Individuum in den Mittelpunkt stellen.
    Unterschiedliche Bewegungen - gemeinsamer Kampf
    Köster: Und trotzdem kämpfen sie gemeinsam?
    Karakasoglu: Sie kämpfen gemeinsam, wenn es darum geht, dass Frauen Zugang zu Bildung haben, wenn es darum geht, dass Frauen gegen männliche Gewalt sich wehren und auch verwehren, dass sie ein Recht darauf haben sollen, selbst entscheiden zu können, wie sie ihr Leben gestalten wollen. Die einen drücken das, sagen wir, etwas weicher aus, im Sinne von einer möglichen Harmonisierung mit den Interessen der Familie. Die anderen sind da sehr viel stärker im Hinblick auf die sehr individuelle Durchsetzung und das Recht der Frau, auch gegen die Familie, gegen Interessen der Familien ihre eigene Selbstbestimmung durchzusetzen, aber eine grundlegende, übergeordnete Perspektive ist tatsächlich dieser Zugang zu Bildung, der Zugang auch, wer möchte, zum Arbeitsmarkt und eben das Recht der Unversehrtheit, der körperlichen und seelischen Unversehrtheit.
    Köster: Wo sind Sie denn an Ihre Daten gekommen, also wo haben Sie die Interviews geführt für Ihre Forschung?
    Karakasoglu: Wir waren in vier Regionen der Türkei unterwegs in den Jahren 2014 und 15, in Ankara, in Diyarbakir, also im Südosten, in der ägäischen Region, in kleineren und mittelgroßen Städten und in der östlichen Schwarzmeerregion. Insgesamt haben wir 65 Interviews mit Frauen, die in der Frauenbewegung, in Frauenbewegungen unterwegs sind als Aktivistinnen und auch als Expertinnen zu diesem Thema selbst gearbeitet haben, wobei diese Trennung nicht immer eindeutig ist. Also viele Frauen, die wissenschaftlich arbeiten, sind gleichzeitig auch als Aktivistinnen direkt auf der Straße unterwegs für die Rechte der Frauen. Also mit diesen haben wir Interviews durchgeführt und dann auch geguckt, inwiefern bestimmte Themen in bestimmten Regionen vorrangig behandelt werden.
    Köster: Wie gehen denn die Frauen mit dieser Bedrohungssituation um, dass sie also jederzeit auch im Gefängnis landen können?
    Karakasoglu: Sie schließen sich einfach noch mehr solidarisch zusammen. Es werden für die Frauen, die tatsächlich dann inhaftiert sind, entsprechende Solidaritätsbekundungen öffentlich gemacht. Im Internet werden Möglichkeiten gefunden, sich, auch wenn bestimmte Demonstrationen verboten werden, zerschlagen werden, trotzdem noch solidarisch zueinander zu verhalten, Aufrufe zu starten, öffentlich weiterhin auf diese Weise kundzugeben, dass man diesen Kampf nicht aufgeben wird und dass man die Solidarität füreinander auch nicht aufgeben wird und sich nicht einschüchtern lässt.
    "Vertreterinnen der Frauenforschung sollten mundtot gemacht werden"
    Köster: Und Sie haben eben gesagt, die Aktivistinnen sind teilweise auch Forscherinnen, das heißt, die arbeiten an den Universitäten in der Türkei. Inwiefern ist denn deren Rolle jetzt im Moment auch gerade besonders gefährdet, wenn sie sich regierungskritisch äußern?
    Karakasoglu: Wir haben schon gesehen, dass sogar innerhalb unseres Teams beziehungsweise unserer Kooperationspartnerinnen jetzt zwei sehr wesentliche Vertreterinnen der Frauenforschung, zwei Leiterinnen von Frauen- und Geschlechterforschungszentren, einmal der Universität Ankara und einmal der Universität Istanbul, ihrer Posten enthoben wurden und letztlich auch gedrängt wurden, in einen vorzeitigen Ruhestand sich zu verabschieden, damit also ihre aktive Rolle in der Universität aufzugeben und hier sozusagen versucht wird, sie mundtot zu machen.
    Wir sehen auch unter den Frauen, die jetzt aus der Türkei als bedrohte Akademikerinnen nach Deutschland gekommen sind und hier zum Beispiel Stipendien der Philipp Schwarz-Initiative zum Glück in Anspruch nehmen können, viele, die selber Aktivistinnen sind, die zu diesem Thema geforscht haben in der Türkei, und die eben auf dieser Grundlage ihre akademische Basis in der Türkei verloren haben, weil man sie entlassen hat, weil man sie bedroht hat, und weil das dann auch sogar Unterstützung teilweise in Studierenden und Kolleginnen gefunden hat, während auf der anderen Seite natürlich auch wiederum mit ihnen Solidaritätsbekundungen stattfinden, die aber keine Oberhand gewinnen können. Also hier sind Frauen tatsächlich sehr stark unter Beschuss, muss man sagen, und das drückt sich auch in der Gruppe der Frauen, die in Deutschland sind, die hier Zuflucht gefunden haben, aus.
    Forschungsbericht in vier Sprachen veröffentlicht
    Köster: Wie viel Nähe ist denn von Ihrer Seite nötig, um mit den Aktivistinnen in Kontakt zu sein, also um über sie auch Forschung machen zu können, und gleichzeitig brauchen Sie auch eine Unabhängigkeit als Forscherin, sprich also, wo setzen Sie die Grenzen dann?
    Karakasoglu: Wir sehen in der Veröffentlichung dieses Forschungsberichtes über die Frauenbewegungen in der Türkei in vier Sprachen – türkisch, englisch, deutsch und kurdisch – ein wichtiges Element der Verbindung, der Erhaltung unserer Verbindung, zu den Interviewpartnerinnen. Sie haben Zugang zu dem, was wir erforscht haben mit ihrer Hilfe, mit ihrer Unterstützung. Sie bekommen darüber auch eine, sagen wir, öffentliche Stimme. Es wird das, was sie uns gesagt haben, öffentlich gemacht und in einen analytischen Zusammenhang gebracht und zugänglich gemacht für die Öffentlichkeit. Das ist zum Beispiel ein Weg und eine Unterstützung für die wissenschaftlich tätigen Frauen, die wir einbinden, die wir einladen zu entsprechenden Vorträgen und denen wir auch darin Solidarität zeigen, zum Beispiel, dass wir Werkverträge vergeben für Menschen, die nicht aus der Türkei rauskommen können, aber immer noch wissenschaftlich natürlich weiter arbeiten wollen.
    Köster: Sagt Professorin Yasemin Karakasoglu von der Universität Bremen. Sie erzählte uns über ihr Forschungsprojekt zu den Frauenbewegungen in der Türkei.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.