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Frauenrechtlerin Lily Amalie Braun
Glamourös, skandalumwittert und voller Widersprüche

Sie war der Paradiesvogel auf der politischen Bühne des wilhelminischen Kaiserreichs: die Frauenrechtlerin Lily Amalie Braun. Ihr politisches Engagement war anfangs ein Skandal, als SPD-Mitglied überwarf sie sich mit Clara Zetkin. Später steigerte sie sich fanatisch in Kriegsbegeisterung. Vor 150 Jahren wurde sie geboren.

Von Ulrike Rückert | 02.07.2015
    Die Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und SPD-Mitglied Lily Braun in einer zeitgenössischen Aufnahme.
    Die Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und SPD-Mitglied Lily Braun in einer zeitgenössischen Aufnahme. (picture alliance / dpa)
    "Ich entsinne mich meines Erstaunens beim ersten Zusammentreffen mit der viel genannten Sozialistin, die mir strahlend in blonder Schönheit, geschmackvoll und vornehm in ihrer Villa im Grunewald gegenübertrat. Damals war Lily Braun, ganz besonders als Frau, in einer Ausnahmestellung."
    So erinnerte sich eine Mitstreiterin an Lily Braun, den Paradiesvogel auf der politischen Bühne des wilhelminischen Kaiserreichs: glamourös, skandalumwittert und voller Widersprüche.
    Geboren wurde sie am 2. Juli 1865 als Amelia von Kretschmann. Sie wuchs im adelsstolzen preußischen Offiziersmilieu auf - eine enge Welt für eine rebellische junge Frau:
    "Du glaubst nicht, wie viele Leidenschaften in mir wüten; tausend wilde Begierden, Haß gegen jede Fessel, Heißhunger ich weiß nicht wonach," schrieb die 19-Jährige. Neun Jahre später heiratete sie, zum Entsetzen ihrer Familie, den Philosophieprofessor Georg von Gizycki, der sie mit Sozialismus und Frauenbewegung vertraut machte. Durch ihn begegnete sie prominenten Sozialdemokraten, der Friedensaktivistin Bertha von Suttner und der berühmten amerikanischen Frauenrechtlerin Frances Willard.
    "Und als dann gar mein Name als Rednerin in Versammlungen der bürgerlichen Frauenvereine an den Litfaßsäulen und in den Zeitungen stand, sah mein Vater darin eine ehrlose Handlung."
    Als Frau von Gizycki hielt sie die erste öffentliche Rede für das Frauenstimmrecht in Deutschland - ein Eklat, denn in Preußen war Frauen politische Betätigung gesetzlich verboten.
    "Vielen Mitgliedern des Vereins Frauenwohl erschien diese Tat als bedenklich und gefährlich, so daß eine Anzahl deswegen ihre Mitgliedschaft aufgaben," berichtet Minna Cauer, die Organisatorin der aufrührerischen Veranstaltung. 1896 trat die adlige Renegatin in die SPD ein. Der Skandal war komplett, als sie, nach zwei Ehejahren schon verwitwet, den Sozialdemokraten Heinrich Braun heiratete, der ihretwegen seine schwangere Frau verlassen hatte.
    "Mein Vater sagte sich förmlich von mir los. Für die Welt, der ich angehört hatte, wie für meine Familie war ich tot."
    Konkurrenzkampf mit Clara Zetkin
    Lily Braun spielte sofort eine führende Rolle in der sozialistischen Frauenbewegung, die wegen der Verbotsgesetze praktisch im Untergrund agierte.
    "Ihre Bildungsvereine waren unter den nichtigsten Vorwänden aufgelöst worden; ihre Vorkämpferinnen mussten sich wiederholt polizeilichen Haussuchungen unterwerfen."
    Lily Brauns Engagement hatte einen doppelten Antrieb: einen Jungmädchentraum, der sie nie losließ - als moderne Jungfrau von Orléans mit großen Taten die Welt zu verändern. Und das Bewusstsein, dass für ihre Privilegien andere bezahlten:
    "Es giebt kaum ein Stück unserer Kleidung, an dem nicht der Schweiß abgearbeiteter Frauen klebt, zu den Genüssen unserer Tafel hat die Arbeit hungernder, geschändeter Mädchen beigetragen. Ich schäme mich vor den armen Leuten."
    "Die Partei aber bot ihr einen dornigen Pfad. Sie konnte nicht aufhören, eine ‚große Dame' zu sein. Ihre gewählten Manieren, ihre adlige Herkunft mußten fremdartig wirken," schrieb eine Freundin über sie. Lily Braun war eine wortgewaltige, mitreißende Rednerin. 1901 veröffentlichte sie eine akribisch recherchierte Studie über Frauenarbeit im internationalen Vergleich. Aber das Misstrauen der Basis überwand sie nie. Mit Clara Zetkin, der unangefochtenen Galionsfigur der SPD-Frauen, verstrickte sie sich in einen erbitterten Konkurrenzkampf. Und während Zetkin jede Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Frauenbewegung strikt ablehnte, blieb Lily Braun eine Grenzgängerin. Frustriert zog sie sich schließlich aus der Parteiarbeit zurück und schrieb ihre "Memoiren einer Sozialistin".
    "Jetzt aber muß ich stille stehen, muß Atem schöpfen, denn die große Einsamkeit um mich her läßt mich schaudern. Wohin nun?"
    Den Tod des Sohnes nicht mehr erlebt
    Aus dieser Krise steigerte sie sich im August 1914 in fanatische Kriegsbegeisterung. Stolz schickte sie ihren 17-jährigen Sohn als "Heldenknaben" an die Front, zog mit aufpeitschenden Reden durchs Land und forderte Kinder fürs Vaterland:
    "Für jede Hand, die sich jetzt sterbend um die Waffen klammert, schafft andere Hände, - viele kleine Kinderhände. Und für all die Hirne, die die Kugeln durchbohren, schafft andere Hirne, viele kleine Kinderhirne."
    Lily Braun starb im August 1916 an einem Schlaganfall. Sie erlebte nicht mehr, dass ihr vergötterter Sohn nicht feuergestählt zurückkehrte, sondern von einer Granate zerrissen wurde.