Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Freie Liebe zu dritt

"Jules und Jim" von François Truffaut gehört zu den Meisterwerken der Nouvelle vague. Vorbild für die Verfilmung der Utopie einer wahren Liebe zu dritt war der autobiografische Roman von Henri-Pierre Roche.

Von Marli Feldvoß | 23.01.2012
    "Ich liebe Dich, Jim. Es gibt so vieles auf der Welt, das wir nicht verstehen und unglaubliche Dinge, die wahr sind. Ich bin schwanger. Ich bin sicher, dass Du der Vater bist. Bitte glaub mir, Jim."

    Cathérine ist die Frau zwischen zwei Männern: Jules und Jim. Mit Jules, dem Deutschen, lebt sie nach dem Ersten Weltkrieg verheiratet im Schwarzwald, entscheidet sich dann aber für den Franzosen Jim, der seine Pariser Gefährtin Gilberte zuletzt doch nicht verlassen will.

    "Wahlverwandtschaften" wie bei Goethe, doch das amouröse Trio hat wirklich gelebt. François Truffaut fiel der autobiografische Roman "Jules et Jim" von Henri-Pierre Roché 1955 zufällig in die Hände. Der schon über siebzigjährige Roché wurde sein Freund, "Jules et Jim" Truffauts dritter, vielleicht schönster Film.

    "Ich kann nichts machen, was mir fremd ist. Wenn ich etwas lese, muss ich mich identifizieren können. Ich muss mir sagen können, dass ich in der gleichen Lage sein könnte. Das brauche ich, um wirklich arbeiten zu können."

    Die ideale Besetzung mit Jeanne Moreau, die dadurch zum Star wurde, dem Theaterliebling Oscar Werner und dem Roché äußerlich ähnlichen Henri Serre trug erheblich zum Erfolg bei. "Jules et Jim" ist kein typischer Nouvelle vague-Film, denn er erzählt von der Belle Epoque bis zum Aufstieg Hitlers. In seiner Aufbruchsstimmung, seiner Poesie und Leichtigkeit spiegelt er jedoch das Lebensgefühl der Filmrevoluzzer, die dem alten Studio-Kino den Kampf erklärten, auf der Straße drehten, mit ungewöhnlichen Schnittfolgen und hohem Tempo verblüfften. Truffaut übernahm sogar zu großen Teilen den sehr modern wirkenden Originaltext der Vorlage.
    Jules schreibt an Cathérine:

    "Cathérine, meine Geliebte, ich denke ununterbrochen an Dich, nicht an Deine Seele, an die glaube ich nicht mehr: an Deinen Körper, an Deine Schenkel, an Deine Hüften. Ich denke auch an Deinen Bauch und an unseren Sohn darinnen. Ich habe keine Couverts mehr und weiß darum nicht, wie ich Dir diesen Brief senden soll. Ich werde an die russische Front geschickt. Es wird schwer sein."

    Das Dreigespann heißt in Wirklichkeit Henri-Pierre Roché, Franz Hessel und Helen Grund. Die beiden Schriftsteller lernten sich 1906 im Café Dôme am Boulevard Montparnasse kennen, die exzentrische Helen, ab 1912 Malereistudentin in Paris, komplettierte das Trio, das sich zum Experiment einer neuen freien Liebe zu dritt verbündete. Die Grenzüberschreitung aller bürgerlichen Werte war ihr Programm. Ihre ménage à trois währte nur einen Sommer lang, 1918 in einem kleinen Dorf im Isartal bei München. Helen, die mit Franz Hessel zwei Söhne hatte, wurde tatsächlich ein drittes Mal schwanger und trieb ab. Anders als in der Fiktion überlebten alle drei Protagonisten das Experiment. Wenn - im Film - Cathérine am Steuer mit Jim als Beifahrer vor Jules Augen auf eine zerstörte Brücke fährt, um sich in den Tod zu stürzen, geht ein Melodram zu Ende, das in der zweiten Hälfte vom Scheitern und von der Enttäuschung geprägt ist.

    "Von meinen drei Filmen war dies der schwierigste. Ich glaube, es ist trotz der heiklen Aspekte der Vorlage ein zutiefst moralischer Film geworden, schon allein der schrecklichen Traurigkeit wegen, die er entfaltet. Das passiert mir nun schon zum dritten Mal: Anfangs glaube ich, einen lustigen Film zu drehen, und auf halbem Wege merke ich, dass er Traurigkeit braucht, um überhaupt zu funktionieren."

    Eine Liebesgeschichte ohne Ende. In den neunziger Jahren wurden die Tagebücher von Franz und Helen Hessel, die alle überlebte und mit 92 Jahren starb, gefunden und veröffentlicht. Kürzlich hat noch der letzte prominente Nachfahr, Stéphane Hessel, Sohn von Franz und Helen, mit seiner Schrift "Empört Euch" an den aufrührerischen Geist seiner Familie angeknüpft. Doch Helen Hessel, die 1920 in ihr Tagebuch schrieb: "Ich nehme mir die Männer." bleibt unübertroffen. In Gestalt von Jeanne Moreau wurde sie als das Modell einer "neuen Frau" gefeiert.