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Freier Richterposten am Supreme Court
Kornblum: Die USA "stehen vor einer großen Auseinandersetzung"

Nach dem Tod der US-Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg dürfte die Neubesetzung ihrer Position die Schlussphase des Wahlkampfes prägen. Zeitgleich erlebe die USA eine große, konfrontationsreiche gesellschaftliche Umwälzung, sagte der ehemalige US-Botschafter in Berlin, John Kornblum, im Dlf.

John Kornblum im Gespräch mit Christiane Kaess | 21.09.2020
John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland
John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland (dpa / picture-alliance / Karlheinz Schindler)
Sie galt als Ikone des liberalen Amerikas. Bis ins Alter von 87 Jahren hat Ruth Bader Ginsburg als Richterin am obersten Gerichtshof der USA, dem Supreme Court gearbeitet; zuletzt schwer krank vom Bett aus. Am Freitag ist Ginsburg ihrem Krebsleiden erlegen. Dass ihr Tod brisante politische Folgen haben würde, war Ginsburg klar. Sie diktierte noch auf dem Sterbebett ihrer Enkelin ihren letzten Wunsch, nämlich nicht als Verfassungsrichterin ersetzt zu werden, bevor ein neuer Präsident im Amt ist.
Genau diese Neubesetzung will US-Präsident Donald Trump jetzt aber vorantreiben. Zwei Kandidatinnen hat er bereits ins Auge gefasst: Amy Coney Barrett und Barbara Lagoa. Barett "ist eine katholische Frau, irischer Abstammung, die sieben Kinder hat, die genau das typische amerikanische Familienleben darstellt. Die andere ist die Tochter von kubanischen Flüchtlingen, Flüchtlingen gegen Castro", sagte Kornblum im Dlf. Sie komme aus Florida und das sei der Bundesstaat, den Trump gewinnen muss.
Das Bild zeigt die amerikanische Flagge, Dossier zur US-Wahl 2020 

Lesen Sie hier das vollständige Interview im Wortlaut.
Christiane Kaess: Haben Sie die Sorge, dass der Kampf um diese Richterstelle Trump jetzt einen Wahlsieg beschert, weil konservative Wähler ihm eine konservative Neubesetzung hoch anrechnen würden?
John Kornblum: Na, so einfach ist es nicht. Wie Ihr Korrespondent sehr gut geschildert hat, ist die Lage jetzt sehr unklar. Dieses Jahr ist bestimmt für die amerikanische Politik ein Jahr ohne Vergleich gewesen. Trump ist, wie wir wissen, eine Figur, die das Land spaltet. Aber zur gleichen Zeit haben wir eine Reihe von dramatischen Ereignissen, ob es die Bürgerrechtsbewegung ist, ob es Corona ist, ob es der Tod von Ginsburg ist, ob es die Krankenversicherung ist. Das heißt, wir erleben zur gleichen Zeit, zeitgleich mit dem Wahlkampf, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, die es seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Deshalb ist es sehr schwierig zu sagen, wer hier davon profitiert. Auf der einen Seite werden die Anhänger von Trump jetzt vielleicht ein bisschen motiviert sein, um sicher zu sein, dass es einen konservativen Richter gibt. Auf der anderen Seite sieht man in den letzten zwei, drei Tagen eine unheimliche Aufwallung von Unterstützung aus der demokratischen Seite: mehr Geld für Biden, große Demonstrationen etc. etc. Ich glaube, den Ausgang kann man im Moment nicht vorhersagen.
"Oberste Gerichtshof spielt eine sehr wichtige Rolle in Amerika, ohne Frage"
Kaess: Aber, Herr Kornblum, da kommt jetzt eine weitere Polarisierung dazu, und es sprechen viele schon davon, eine konservative Neubesetzung dieses Postens am Supreme Court, das wäre das Ende des liberalen Amerikas. Würden Sie auch soweit gehen, das so zu interpretieren?
Kornblum: Nein! – Nein, überhaupt nicht. Wir sind mitten in einem Wahlkampf. Wir sind auch mitten in einer sehr dramatischen Phase. Aber der oberste Gerichtshof spielt eine sehr wichtige Rolle in Amerika, ohne Frage. Gerade bei diesen gesellschaftlichen Fragen, die sehr schwierig sind durch das Parlament zu regeln, spielt der oberste Gerichtshof eine sehr wichtige Rolle. Aber es ist nicht erst seit gestern, dass das auch sehr umstritten wurde, und auch nicht erst seit gestern, dass man den Weltuntergang vorhersagt, wenn das nicht in eine Richtung geht. Soweit würde ich nicht gehen. Ich würde aber sagen: Wenn Trump jetzt sagt – er sagte, es wird eine Frau sein - eine sehr konservative Richterin ernennen darf, dann wird es natürlich noch mehr Konflikte geben in den kommenden Jahren, als es sie jetzt gibt.
Kaess: Aber muss man nicht auch sagen: Wenn es jetzt zu einer konservativen Neubesetzung kommt, dann war der Weg dorthin ja durch demokratische Wahlen zustande gekommen, denn der hat Trump ins Amt gebracht, da ist der Senat jetzt dominiert von Republikanern, weil die Wahlen auch so ausgegangen sind. Muss man dann nicht sagen, eine konservative Besetzung würde auch die Ansichten der Mehrheit der US-Bevölkerung wiederspiegeln?
Kornblum: Das ist natürlich die Frage. Erstens: Ich bin nicht einer, der sagt, das ist alles zu verurteilen, was Trump machen würde, wenn er jetzt versuchen würde, einen neuen Richter, eine Richterin bestätigen zu lassen. Was wir hier haben ist ein politischer Machtkampf und beide Seiten benutzen die moralischen Argumente, die sie haben, oder die praktischen Argumente, die sie haben. Aber im Endeffekt ist die Lage zu kompliziert, und natürlich sind auch die Gewinne oder die Verluste so stark, dass man das nicht sehr klar sagen kann. Ich bin nicht so sicher, dass das alles schlimm ist, wenn Trump versucht, das durchzuboxen. Er hat gewonnen, wie Sie gesagt haben.
"Es gibt einen sehr grundsätzlichen tieflaufenden Machtkampf"
Kaess: Herr Kornblum, ist das Argument der Demokraten gegen eine schnelle Neubesetzung nicht recht schwach? Denn die führen ja jetzt an die Situation vor vier Jahren. Da hat Obama probiert, einen konservativen Richter nachzubesetzen, und ist dann im Senat gescheitert. Allerdings war der damals in den Händen der Republikaner. Jetzt ist die Situation anders, weil der Senat und das Weiße Haus in den Händen der Republikaner ist. Das wäre ja jetzt nicht unrechtmäßig, wenn die Republikaner den Posten schnell nachbesetzen.
Kornblum: Ja, hundertprozentig. Das stimmt. Wie gesagt: Ich bin nicht einer, der sagt, das ist irgendwie verfassungsuntreu oder so, wenn Trump das machen würde. Aber wichtig ist zu verstehen, dass es hier nicht mit irgendwelchen Artikeln des Grundgesetzes zu tun hat, sondern dass es einen sehr grundsätzlichen tieflaufenden Machtkampf gibt. Dieser Machtkampf ist nicht erst seit gestern da und diese Wahl wird natürlich sehr viel entscheiden. Wenn Biden gewinnt, wird es in eine andere Richtung gehen, als wenn Trump gewinnt. Aber bei aller Liebe zu Frau Ginsburg etc. – man sollte jetzt nicht sagen, dass das irgendwie unmöglich ist, wenn Trump versucht, ihren Platz jetzt zu besetzen.
Zwei Kandidatinnen: Amy Coney Barrett und Barbara Lagoa
Kaess: Zwei Kandidatinnen hat Trump schon mal ins Auge gefasst. Das sind zwei Bundesrichterinnen: Amy Coney Barrett und Barbara Lagoa. Wie schätzen Sie die beiden ein?
Kornblum: Na ja, man kennt beide ziemlich gut. Die eine ist eine katholische Frau, glaube ich, irischer Abstammung, die sieben Kinder hat, die genau das typische amerikanische Familienleben darstellt. Die andere ist die Tochter von kubanischen Flüchtlingen, Flüchtlingen gegen Castro. Sie kommt aus Florida und Florida ist natürlich der Bundesstaat, den Trump gewinnen muss. Wenn Trump Florida nicht gewinnt, dann wird er verlieren. Deshalb überlegt er wahrscheinlich sehr stark, ob er nicht die zweite Person nehmen sollte.
Kaess: Das könnte eventuell doch dann auch die Wahl stark beeinflussen?
Kornblum: Könnte vielleicht, vielleicht nicht. Aber wie ich am Anfang gesagt habe: Man weiß im Moment nicht, in welche Richtung diese Beeinflussung geht. Auf der einen Seite ist es bestimmt kein Nachteil für Trump, wenn er eine Frau kubanischer Herkunft ernennt, ohne Frage. Auf der anderen Seite: Wir sehen diese gesellschaftlichen Bewegungen, die Afroamerikaner, die Frauen, die LGBT-Menschen. Die sind jetzt noch mehr motiviert durch dieses Ereignis und es kann sein, dass das auch dazu beiträgt, Biden zu helfen. Ich habe keine Ahnung und habe keine Meinung dazu. Nur es ist wichtig zu verstehen, dass die Inhalte viel weniger sind als die Stimmung im Moment.
"Amerika durchgeht eine riesen gesellschaftliche Umwälzung"
Kaess: Was würde denn eine konservative Neubesetzung am Supreme Court in der Praxis bedeuten? Da wird jetzt immer das Abtreibungsrecht angeführt.
Kornblum: Abtreibung und wahrscheinlich Krankenversicherung sind die beiden, die am umstrittensten sind und die vielleicht sehr schnell entschieden werden würden. Nur wie gesagt: Das amerikanische Rechtssystem ist kompliziert. Es gibt verschiedene Instanzen, bis das zum obersten Gerichtshof kommt. Und noch dazu: Die Richter werden ernannt mehr oder weniger nach ihrer politischen Richtung, aber sie zeigen sehr oft eine totale Unabhängigkeit, die auch dadurch bedingt oder beeinflusst wird, wie sie ihre Rolle als Richter sehen. Ich glaube, das Wichtigste auch für die Menschen in Europa zu verstehen ist, dass Amerika eine riesen gesellschaftliche Umwälzung durchgeht mit Konfrontation und mit verschiedenen Richtungen, die man sehr schwierig auf der Basis von herkömmlichen Analysen machen kann, und es ist sehr wichtig, dass man genau aufpasst, was passiert.
"Das Land steht vor einer großen Auseinandersetzung"
Kaess: Herr Kornblum, wenn ich mich richtig erinnere, gehörten Sie zu denen, die nach Trumps Wahl gesagt hatten – ich stelle das mal verkürzt dar -, die demokratischen Institutionen werden ihn in Schach halten. Muss man an dem Beispiel des Supreme Court jetzt sagen, dass Trump das Land doch mehr verändert, als Sie vielleicht auch zu Beginn erwartet hatten?
Kornblum: Ich würde sagen, er ist energischer oder auch vielleicht rücksichtsloser, als ich erwartet habe, muss ich ehrlich sagen. Das Land steht jetzt vor einer großen Auseinandersetzung, ohne Frage. Ob das alles auf Trump zurückzubringen ist, weiß ich nicht. Ich habe selber auch in der deutschen Presse geschrieben, dass man sehen muss, dass es seit 20 oder mehr Jahren diese Umwälzungen in der Gesellschaft gibt. Aber Trump hat sie ausgenutzt, ohne Frage. Und wenn er wiedergewählt wird, dann wird er sie leider noch weiterhin ausnutzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.