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Freier Wille?

Arthur Schopenhauer war der große Unzeitgemäße in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Erst nach seinem Tod erlangte sein Denken nachhaltige Wirkung - nicht zuletzt bei Künstlern und intellektuellen Einzelgängern wie Richard Wagner, Thomas Mann und Sigmund Freud.

Von Hans-Martin Lohmann | 21.09.2010
    Drei Tage vor seinem Tod am 21. September 1860 notierte Arthur Schopenhauers letzter Besucher:

    "Dass seinen Leib nun bald die Würmer zernagen würden, sei ihm kein arger Gedanke: dagegen denke er mit Grauen daran, wie sein Geist unter den Händen der 'Philosophieprofessoren' zugerichtet werden würde."

    Auf die deutschen Philosophieprofessoren war Schopenhauer in der Tat nicht gut zu sprechen. Das betraf vor allem den preußischen Staatsphilosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, mit dem er in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts an der Berliner Universität in einen heftigen Konkurrenzkampf trat, in welchem er kläglich unterlag. Hegel war für Schopenhauer der Inbegriff des weltfremden, abgehobenen Denkers.

    "Hegel, ein platter, geistloser, ekelhaft-widerlicher, unwissender Scharlatan, der, mit beispielloser Frechheit, Aberwitz und Unsinn zusammenschmierte, ... hat den Verderb einer ganzen gelehrten Generation zur Folge."

    1788 in Danzig geboren, trat der junge Schopenhauer nicht in das Handelsgeschäft des früh verstorbenen Vaters ein, sondern entschied sich für eine akademische Laufbahn, die sich freilich als wenig aussichtsreich erwies. Dank des beträchtlichen väterlichen Erbes und der damit zusammenhängenden finanziellen Unabhängigkeit entschied er sich schließlich für die Existenz eines Privatgelehrten und ließ sich für den Rest seines Lebens in Frankfurt am Main nieder.

    Im Kontext der zeitgenössischen Philosophie, die an den deutschen Universitäten von der Dominanz des Hegelschen Denkens geprägt war, musste Schopenhauer als skurriler Einzelgänger und Außenseiter erscheinen. Sein Hauptwerk, "Die Welt als Wille und Vorstellung", 1819 erschienen, steht quer zum Pathos eines Idealismus, der auf das Wirken der Vernunft in der Geschichte setzt. Schopenhauers Denken kann man als ebenso anarchisch wie pessimistisch bezeichnen. Die idealistischen Entwürfe Kants, Fichtes und Hegels konfrontiert er mit einem dunklen "Willen", den er als letztlich sinnfreien Daseinsdrang identifiziert, an dem jede Rationalität zerschellt:

    "Die Welt ist schlimm, alle folgen ihrem rohen Egoismus, und doch stößt man hier und dort ganz absurd auf Menschen, die das schlechthin Altruistische tun, wo also auch nicht irgendein Scharfsinn ihnen nachweisen kann, dass sie doch insgeheim ihrem Vorteil dabei dienen, sondern die schlechterdings altruistisch handeln. Nur solchen Handlungen kommt der Wert zu, moralische genannt zu werden."

    Was der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt hier ausführt, ist die Grundannahme des schopenhauerischen Denkens: Menschen sind zuerst "Natur" und eben nicht "Geist" und "Vernunft", das heißt sie sind leibliche Wesen und leben sozusagen im Gefängnis ihres Leibes, dem sie nicht entrinnen können. Leiblichkeit und Sexualität oder Trieb sind unhintergehbare Tatsachen des Lebens und folgen dem blinden Gesetz egoistischer Selbsterhaltung. Deshalb fasst Schopenhauer eine Moral ins Auge, die sich aus anderen Quellen als jenen der Vernunft speist.

    "Er will ja ausdrücklich nicht irgendwelche Gebote oder Regeln predigen, er will keinen Katalog des zu Tuenden aufstellen, sondern das Spezificum seiner Ethik ist ja die affektive Basis. Und dass ich aus einem elementaren Gefühl heraus das Richtige tue und nicht aufgrund einer rationalen Anweisung. Das wiederum hängt aber meines Erachtens zutiefst mit der Metaphysik zusammen. Also Schopenhauers Ethik verweist auf die Metaphysik zurück, darauf, dass der Wille das Ding an sich ist."

    Für Schopenhauer besteht die wahre Kunst des menschlichen Daseins darin, dass der Wille sich selbst als unvernünftig und böse durchschaut und dadurch in die Lage versetzt wird, sich von seinem Drang zu erlösen, das heißt sich als Wille zu verneinen. Medium dieser Selbstverneinung ist zum einen die Kunst, zum anderen die Fähigkeit zum elementaren Mitleiden mit der Kreatur und zum Handeln aus Mitleid. In solch elementarer Mitleidsfähigkeit erkennt Schopenhauer das Fundament aller Moral.

    Schopenhauers Philosophie ist, wenn man so will, eine Philosophie pessimistischer Lebensklugheit, die, um dem Guten eine Möglichkeit zu bieten, immer mit dem Schlimmen rechnet. In der Sprache der heutigen Zeit könnte man sie auf die bekannte Formel bringen:

    "Du hast keine Chance, aber nutze sie."